27. Januar 2018 - Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus

 

Heute, im Jahr 2018, in dem Klubs wie Paris St.Germain, der FC Chelsea, Arsenal London, der FC Bayern, Real Madrid und viele andere europäische Mannschaften wie in den vergangenen Jahren alles daran setzen, um mit dem Champions-League-Pokal die angesehenste europäische Fußball-Trophäe zu erringen, ist es kaum noch vorstellbar, dass das Fußballspielen in Europa vor ungefähr 150 Jahren noch fast unbekannt war.

Im Jahr 1863 wurde als erster der britische Fußballverband gegründet und es wurden Regeln für das Spiel festgelegt, die die Grundlagen für die auch noch heute geltenden Regeln bilden.

In Deutschland gibt es zu dieser Zeit noch keinen Fußballsport. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts besitzt das Turnen als sportliche Betätigung den höchsten Stellenwert in der Gesellschaft. Das Turnen sollte vor allem der körperlichen Ertüchtigung dienen, der Gewöhnung der jungen Männer an die Anpassung ihrer Bewegung an die über sie bestimmende Gemeinschaft, der Gewöhnung an den Gleichschritt ... Letztlich geht es den Herrschenden in Deutschland um das Trainieren des Körpers zur Vorbereitung der späteren militärischen Ausbildung der Männer für den Krieg.

Als der Funke des Fußballs Ende des 19. Jahrhunderts nach Deutschland überspringt, wird das Spiel von diesen konservativen Kreisen bekämpft: Die Füße seien dem Menschen zum aufrechten Gang gegeben; der Gang würde unsicher werden, wenn die Füße mit dem Ball spielten. Die Fußballspieler wären willenlose Marionetten, die den unberechenbaren Laufrichtungen des Balls nur hinterherlaufen würden. Und außerdem: Es fehle dem Fußballspiel ein Führer, der eine klare Richtung vorgebe, so dass die Spieler sich letztlich nur wie eine Horde Rindviecher ohne Halt und Verstand bewegen würden. Dass das Fußballspiel zudem noch aus England kommt, macht die Sache noch schlimmer: Ab 1890 herrscht in Deutschland Kaiser Wilhelm II., der eine aggressive Außenpolitik gegen England betreibt. Die oberen Schichten der deutschen Gesellschaft kennzeichnet eine england-feindliche Haltung. Ihnen gilt das Fußballspiel nicht nur als schmutzig, sondern vor allem als unmännlich, undeutsch - und ist daher abzulehnen.

Aber: Das Fußballspielen ist in Wirklichkeit eine sehr attraktive Sportart. Es geht um die Kunst der Körperbeherrschung gerade in den Momenten fehlenden Gleichgewichts. Es geht um das Erlernen der physikalischen Gesetzmäßigkeiten des Laufs von Bällen. Es geht um die Förderung des Zusammenspiels von Menschen, ihres Zusammenhalts, ihrer Gemeinschaft - wobei jedoch auch der Kreativität eines jeden einzelnen Spielers stets eine sehr hohe Bedeutung zukommt. Gerade diese- zuletzt genannte Tatsache macht das Fußballspiel für junge Leute - damals wie heute - so attraktiv: dass sie ihre körperliche, aber auch geistige Kreativität beim Spiel mit dem Ball entwickeln und umsetzen dürfen.

So ist es kein Wunder, dass auch junge Männer in Deutschland um 1900 begeistert vom Fußballspielen sind, einfach Teams aus 11 Spielern bilden und ihre Freizeit mit dem Ball am Fuß und im Wettkampf mit einer anderen Elf auf einer Bolzwiese verbringen wollen.

Auch kein Wunder ist, dass das Fußballspiel gerade in Kreisen von Studenten sehr beliebt ist, die Freude haben an der Schnelligkeit dieses Sports und der geistige Beweglichkeit, die bei seiner Ausübung nötig ist.

Und so gründen im Jahr 1900 siebzehn junge Leute, die im liberalen und von freiem Denken und Offenheit geprägten Schwabing leben, unter dem Dach des „Münchner Turnverein" eine eigene Fußballabteilung mit dem Namen „FC Bayern". Rasch bildet sich eine verschworene Gruppe von Fußballern, die ihre Freude am Fußballspiel ausleben.

Bereits 1901 spielt ein 17jähriger Schüler des Königlichen Ludwigsgymnasiums in München bei ihnen mit. Kurt Landauer kennzeichnen eine sehr hohe Spurtschnelligkeit, mit der er sich als Torwart den Ball bereits weit vor dem Tor erkämpft, sowie eine hohe Angstfreiheit im Körperkontakt mit heranstürmenden Spielern. Ein begnadeter Sportler ist er nicht, aber seine Begeisterung für das schnelle und aufregende Spiel und sein voller Einsatz rufen in ihm eine Euphorie hervor, die ihn glücklich macht. Auch die Gemeinschaft mit den meist etwas älteren Spielern genießt er; er schätzt - wie er dies von seinen älteren Brüdern Leo, Paul und Franz kennt - ihre Lebenserfahrung und ihr Selbstbewusstsein.

Am Schulunterricht, der sehr von Auswendiglernen und wenig von Verstehen geprägt ist, hat Kurt keine große Freude. Er lernt zu wenig. Seine Eltern haben den Eindruck, dass die gymnasiale Ausbildung für den 17jährigen nicht mehr das Passende ist, und sind wohl auch der Meinung, dass seine Fußballvernarrtheit eines Dämpfers bedarf. Der Vater, Otto Landauer, besitzt ein Modegeschäft in der Kaufingerstraße in München. Er schickt seinen Sohn 1901 nach Lausanne in die Schweiz, um ihn in einem angesehenen Bankhaus eine Ausbildung im Bereich der internationalen Finanzbuchhaltung machen zu lassen. Was der Vater jedoch offenbar nicht weiß, ist, dass es gerade in der Schweiz eine große Anzahl von Internaten gibt, in denen vor allem wohlhabende englische Familien ihre Söhne zur Schule gehen lassen. Und diese Engländer spielen selbstverständlich Fußball, die jungen Schweizer spielen mit, so dass an jedem Wochenende viele Wettkämpfe ausgetragen werden. Kurt kann hier seine Fußballbegeisterung noch viel besser als in München ausleben. Für die Einheimischen ist Kurt „the Bavarian" !

Da der junge Mann während der Woche seine Arbeit im Bankhaus sehr engagiert erledigt und - wie man ihm mitteilt - „in manchen Dingen der Organisation und Verwaltung außerordentlich talentiert" sei, sieht keiner einen Grund, dem Vater in München eine Nachricht über seinen Sohn zukommen zu lassen. Für Kurt ist seine Zeit in Lausanne sehr wichtig: Er merkt, dass sein Körperbau für das Fußballspiel nur begrenzt geeignet ist. Aber er spürt einen Wert darin, sich in die Organisationsarbeit einzubringen, z.B. die Reisen der Spieler in andere Städte zu organisieren oder die Finanzierung dieser Reisen zu sichern ... - Er erlebt, wie wichtig diese Dinge sind, um die Wettkämpfe stattfinden zu lassen, bei denen sich die Teams weiterentwickeln können.

Während der drei Jahre in der Schweiz hält Kurt einen intensiven Kontakt mit seinen Fußballfreunden in München, so dass diese den 20jährigen nach seiner Rückkehr 1904 sofort zu ihrem Schriftführer ernennen. An dieser Regelung ändert sich auch nichts, als Kurt 1905 seinen einjährigen Wehrdienst bei der Kavallerie in Augsburg leistet.

1906 verlässt die Fußballabteilung „FC Bayern" den Münchner Turnverein und schließt sich mit einem der angesehensten Sportvereine Münchens, dem MSC, zusammen. Der „große" MSC stellt dem „kleinen" FC Bayern einen Trainingsplatz mit Umkleidekabinen und sogar Duschen zur Verfügung. Die sportlichen Leistungsträger können sich nun auf den Fußball konzentrieren, weil der MSC-Präsident Dr. Knorr und seine Mitarbeiter - u.a. Kurt Landauer - die Organisationsarbeit übernehmen. Eine einzige Bedingung muss erfüllt werden: Die Fußballer des FC Bayern laufen ab jetzt in den roten Hosen des MSC auf- und darauf gehen sie angesichts des großzügigen Angebots des MSC gerne ein.

Eigentlich arbeitet Kurt Landauer ab 1906 im väterlichen Modegeschäft. Da aber bereits seine älteren Brüder Leo und Franz ihre Aufgaben dort haben, schafft es Kurt, seine Arbeit im Betrieb in wenigen Stunden am Tag zu erledigen. Nun nutzt er fast seine gesamte Freizeit, um - natürlich ohne Bezahlung - den Fußball des FC Bayern nach vorne zu bringen.

Kurt weiß - viel besser als andere - um das Mittelmaß des Fußballspiels in München. Die Spieler sind reine Amateure, d.h. sie arbeiten in einem Beruf und trainieren nur zweimal in der Woche nach der Arbeit.

Kurt Landauer, dem eine Verbesserung der fußballerischen Qualität der Spieler so sehr am Herzen liegt, beginnt im Alter von 25 Jahren eine Vision zu entwickeln:

Der Fußball habe nicht nur eine positive Wirkung auf Körper und Geist der Spieler, sondern auch eine gesunde Wirkung auf die Zuschauer, die Höhen und Tiefen des Spiels in der Gemeinschaft miterleben. Um die Erwartung der Eintritt zahlenden Zuschauer zu erfüllen, brauche der Verein gute Spieler, die mindestens fünfmal in der Woche mit einem guten Trainer trainieren. Um den eigenen Spielern die Möglichkeit zur Weiterentwicklung zu eröffnen, müsse der Verein gute fremde Spieler holen und allen ein wenig Geld bezahlen, so dass sie häufig trainieren könnten. Mit der dann besseren Mannschaft würde der Verein häufiger siegen, die Zuschauerzahlen würden ansteigen und mit diesen Einnahmen könnte der Verein gute Spieler an den Verein binden.

Im Jahre 1910 - also vor über 100 Jahren - ist dies die Vision eines mehr oder weniger Fußball-Verrückten ! Landauer steht mit solchen Gedanken allein.

Noch schlimmer: Im Jahr 1912 verbieten die Schuldirektoren auf Anregung des Kultusministeriums das Fußballspielen an den bayerischen Schulen, und es wird die Aufnahme von Schülern unter 17 Jahren in Fußballvereinen untersagt. Fußball sei „ungesund", „unmännlich", „undeutsch", „unmilitärisch" - Punkt! Dieses konservative Denken irritiert Landauer sehr. Für ihn liegt der grundlegende Wert des Fußballs im spielerischen Wettkampf der Sportler, im Fair Play, im Respekt vor dem Gegner. Kurt überlegt, ob er angesichts dieses harten Vorgehens der Regierenden gegen den Fußballsport sich nicht doch zurückziehen sollte. Da passiert das Unerwartete: Dr. Knorr muss von einem auf den anderen Tag aus dem Amt scheiden und die Mitgliederversammlung wählt Kurt Landauer mit 29 Jahren zu ihrem neuen Präsidenten ! Sofort beginnt er, an seiner Vision zu arbeiten.

Dann jedoch beginnt 1914 der Erste Weltkrieg. Kaiser Wilhelm II. behauptet, Deutschland führe einen Verteidigungskrieg. Sofort melden sich alle älteren Brüder Landauer freiwillig zum Kriegsdienst; sie wollen ihr Land verteidigen. Leo, Paul und Franz kämpfen über Jahre an der Front. Kurt erlebt im Jahr 1917 in wenigen Monaten die schlimmsten Schlachten des 1. Weltkriegs - zum Teil an der vordersten Linie: tagelanges Maschinengewehrfeuer, Minenwerferexplosionen, Panzerangriffe, Gasangriffe. Er erhält das Eiserne Kreuz und wird wegen seiner Tapferkeit zum Leutnant befördert.

Alle Brüder überleben den Krieg. Aber das Kaiserreich geht unter. Es beginnt die Zeit der Demokratie in Deutschland.                                                                                              

Im Januar 1919 wird Kurt Landauer wieder zum Präsidenten des FC Bayern gewählt. Über zehn Jahre lang wird er all seine Kraft und Energie einsetzen, die Spielkunst und die Spielkultur der Mannschaft sowie die Situation des Vereins in München zu verbessern:

  • Landauer lädt ausländische Vereine - z.B. den MTK Budapest - ein, damit unglaubliche 15000 Zuschauer in München das flexible Spiel der Ungarn mit den schnellen Pässen aus der Abwehr ins Mittelfeld, mit Angriffen über die Außen, mit weiten Flanken in den Strafraum und mit dort wirbelnden Stürmern - und damit echte Fußballkunst - sehen können.
  • Landauer schafft optimale Bedingungen für eine hervorragende Jugendarbeit des FC Bayern.
  • Landauer verpflichtet gute  (meist  englische)  Trainer,   die  den  „Bayern"  mit der Zeit körperliche   Fitness,   Robustheit   im   Zweikampf,   das   schnelle,   kurze   Flachpassspiel, mannschaftliches Denken und auch fußballerische Kunst am Ball beibringen.
  • 1924 wird der FC Bayern endlich ein eigenständiger Verein: Er nennt sich „FC Bayern München". Die roten Hosen bleiben das Traditionstrikot der Spieler.
  • 1926 wird der FC Bayern München zum ersten Mal Süddeutscher Meister.
  • 1927 hat der Verein 1600 Mitglieder, ist finanziell gut aufgestellt, die Zuschauerzahlen steigen.

Und der FC Bayern unter Präsident Kurt Landauer ist bekannt für seine traditionell liberale, weltoffene Art, die es Spielern und selbst Trainern leicht macht, sich auch als Nicht-Münchner schnell heimisch zu fühlen. Jeder ist willkommen. Jeder hat die gleichen Chancen zur Mitarbeit.

Im Sommer 1932 zeigt sich endlich der Erfolg der Arbeit Landauers: 1932 feiert der FC Bayern München nach spannenden Spielen seine 1. Deutsche Meisterschaft ! Alle sind glücklich.

Doch am 30. Januar 1933 ändert sich die Situation mit der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten. Denn: Kurt Landauer entstammt einer jüdischen Familie. Er kennt das antisemitische Klima in Bayern, war aber bisher kaum davon betroffen.

Nun erlebt Landauer, wie die Nationalsozialisten Ende Februar 1933 Zehntausende Sozialdemokraten und Kommunisten verhaften und einsperren. Er erlebt, wie die Nationalsozialisten im März das Münchner Rathaus in Besitz nehmen und die Hakenkreuzfahne hissen. Er erlebt, wie jüdische Geschäfte angegriffen und jüdische Bürger auf offener Straße zusammengeschlagen werden.

Am 21. März 1933 errichten die Nationalsozialisten das KZ Dachau. Am 22. März tritt Landauer von seinem Amt als Präsident des FC Bayern München zurück. Der Verein wird in den nächsten Jahren keinen Widerstand leisten, wenngleich er sich auch nicht einer raschen Übernahme nationalsozialistischen Gedankenguts öffnet.

Im April 1933 wird Kurt Landauer als Leiter der Anzeigenabteilung der Zeitung „Münchner Neueste Nachrichten", als der er nach der Aufgabe des Modegeschäfts durch die Landauers ab 1930 gearbeitet hat, entlassen. Die Presse wird von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet. Landauer kann kein Geld mehr verdienen.

1934 verlässt Kurts Schwester Henny mit ihrem Mann und dem Sohn nach massiven Drohungen gegen ihren Mann Deutschland. Sie fliehen nach Palästina.

1937 verkaufen Franz und Kurt Landauer den Stammsitz der Familie in der Kaufingerstraße mit einem kleinen Reinerlös, um ihrer Enteignung durch die Nationalsozialisten zuvorzukommen, denn die wirtschaftliche Vernichtung der jüdischen Bürger wird von den Behörden vorbereitet.

In der Nacht des 9. November 1938 kommt es zur Reichspogromnacht: Die Nationalsozialisten zerstören in ganz Deutschland 1400 Synagogen sowie Tausende jüdischer Geschäfte. Und sie verhaften 30 000 jüdische Bürger und verbringen sie in Konzentrationslager.

Am 10. November um 14 Uhr verhaftet die Gestapo Kurt Landauer an seinem Arbeitsplatz im Wäschegeschäft Klauber, wo er seit 1935 arbeitet. Mit einem LKW wird der 54jährige mit anderen Verhafteten ins KZ Dachau gebracht. Zusammen mit mehreren Tausend Häftlingen muss er am eiskalten Abend über Stunden völlig bewegungslos auf dem Appellplatz im Scheinwerferlicht der Wachtürme stehen. Bei der kleinsten Bewegung schlagen SA-Männer ihnen ins Gesicht. Landauers Nebenmann werden mit einem Schlag die Zähne zertrümmert.

Nach sechs Stunden werden Landauer und den anderen Verhafteten in einer Baracke die Haare abrasiert und die Kleidung weggenommen. Sie müssen unter Duschen, aus denen abwechselnd kochend heißes und dann eiskaltes Wasser spritzt; wenn sie vor Schmerz schreien, werden sie zusätzlich geschlagen. Sie müssen eine Häftlingskleidung aus dünnem Stoff anziehen, auf die die Häftlingsnummer - bei Landauer die 20 029 - aufgenäht wird. Beim erneuten Stehen auf dem Appellplatz zittern die Körper aller vor Kälte. Die Nacht verbringen sie in Baracken in Holzkisten. Sie hören, wie die Wachen Flüchtende mit Maschinengewehren erschießen.

Am nächsten Tag stehen sie wieder stundenlang bei Eiseskälte auf dem Appellplatz. Finger, Füße und Nase schwellen blau an. Kurt Landauer erfährt, dass seine Brüder Paul und Franz auch im KZ festgehalten werden. Er erlebt in den nächsten Wochen, wie Menschen zu Tode geprügelt werden, ihnen lebensnotwendige Medikamente verweigert werden, Menschen an Entkräftung sterben, Selbstmorde.

Am 13. Dezember werden Kurt und Paul freigelassen, Franz am 19. Dezember. Ihnen wird gedroht: Sie sollen sofort aus Deutschland verschwinden.

Für Kurt Landauer und seine Brüder geht es nun um die Rettung ihres Lebens. 1938 gibt es jedoch kaum Länder, die jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland Schutz und Asyl gewähren wollen. Nach Hilfe von Freunden erteilt die Schweiz Kurt eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate.

Am 17. Mai 1939 verlässt Kurt Landauer seine Heimatstadt München. Unter seinem Mantel trägt er am Anzug sein Eisernes Kreuz aus dem 1. Weltkrieg, den Militärischen Verdienstorden für seine Tapferkeit und das ihm verliehene Ehrenkreuz für Frontkämpfer.

Nachdem er die Schweizer Grenze überschritten hat, kümmern sich Freunde um den fast Mittellosen. Kurt Landauer lebt in den nächsten zweieinhalb Jahren in großer Angst: Alle drei Monate müssen die Schweizer Behörden seinen Aufenthalt erneut genehmigen. Da es nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Luxemburg keine Länder mehr gibt, die ihm Asyl gewähren könnten, müsste Landauer nach Deutschland zurück, wo er umgebracht werden würde. Erst ab Ende 1941 verlängern die Behörden seine Aufenthaltsgenehmigung fast automatisch, da sie Informationen über das grausame Schicksal der Juden in Deutschland erhalten - er ist gerettet.       

Aber Kurt Landauer muss tatenlos zusehen, wie die Nationalsozialisten Verfolgung und Tod bringen.

  • Am 20. November 1941 wird sein Bruder Paul Landauer mit weiteren 1000 jüdischen Münchnern ins litauische Kaunas deportiert. Dort wird er am 25. November ermordet.
  • Im April 1942 wird die Schwester Gabriele Landauer, die wegen ihres behinderten Sohnes Hans in München geblieben war, ins Ghetto Piaski nach Polen deportiert und dort ermordet. Hans wird im Vernichtungslager Sobibor umgebracht.
  • Im Juni 1942 wird Leo Landauer verschleppt und ebenfalls im Vernichtungslager Sobibor ermordet.
  • Im Juli 1943 stirbt Franz Landauer, der 1939 mit seiner Frau nach Amsterdam geflohen war, im Lager Westerbork. Seine Frau Tilly wird im Oktober 1944 in Auschwitz ermordet.

Von der Ermordung seiner Familienangehörigen weiß Kurt Landauer nichts. Aber er ahnt und fürchtet, dass Schlimmes passiert.

Ein Erlebnis im November 1943 gibt dem 59jährigen wieder Kraft: Bei einem Fußballspiel, das in Zürich zwischen der örtlichen Schweizer Mannschaft und dem FC Bayern stattfindet, befindet er sich auf der Tribüne. Nach dem Spiel läuft eine Gruppe von Bayern-Spielern zur Tribüne und sie winken ihrem ehemaligen Präsidenten zu. Für ihn ist dieses Erlebnis sehr wichtig, da es ihm zeigt, dass es „seine" Bayern noch gibt, die den Rassismus der Nationalsozialisten nicht mitmachen.

Im Mai 1945 kapituliert Hitler-Deutschland. Von den Geschwistern der Familie Landauer leben nur noch Kurt und Henny.    

Im Juni 1947 entscheidet sich Kurt Landauer, nach München zurückzukehren. Er ist nicht naiv. Er weiß um die Schwierigkeiten, die ihn erwarten werden. Der Antisemitismus der Bevölkerung verschwindet nach 1945 nicht einfach. Viele Deutsche leugnen einfach die Verbrechen. Viele äußern weiterhin ihren Hass auf Juden. Schaufenster wiedereröffneter jüdischer Geschäfte  in München werden eingeschlagen. Leserbriefe an Zeitungen  sind unverhohlen antisemitisch.

Aber: Landauers Heimatverbundenheit und seine Liebe zum FC Bayern München ist so groß. Er will sich für dessen sportlichen Wiederaufbau einsetzen.

Landauer muss in München von 220 Mark staatlicher Unterstützung im Monat leben. Aber seine Freunde vom FC Bayern sind voller Freude, als sie ihn wiedersehen. Sofort wählen sie ihn wieder zu ihrem Präsidenten.

In dieser Funktion schafft Landauer noch Bedeutendes für den FC Bayern - unter anderem, dass dem Verein das große Trainingsgelände an der Säbener Straße zur Verfügung gestellt wird. Kurt Landauers Leidenschaft für den Fußball und den FC Bayern brennt weiter. Aber er nimmt auch wahr, wie desinteressiert die meisten Deutschen an einer Beschäftigung mit ihrer Verantwortung für das Geschehen in der NS-Zeit sind. Er selbst spricht von seinen Erlebnissen nicht.

Er nimmt auch wahr, dass viele beim FC Bayern im Zusammensein mit ihm verunsichert sind, weil zwar nicht er sie, aber sie sich selbst insgeheim an ihr unmenschliches Verhalten - als Täter oder auch als Mitläufer in der NS-Zeit - erinnern und ein schlechtes Gewissen haben. Statt mit ihm jedoch darüber zu sprechen, schweigen sie und gehen innerlich zu ihm auf Distanz. Er nimmt wahr, dass auch viele beim FC Bayern ihn nun - im Gegensatz zur Zeit vor 1933 - vorrangig als Juden wahrnehmen, der ihnen in der Nachkriegszeit nützlich ist, anstatt als normalen Menschen - wie dies früher stets die Einstellung beim FC Bayern war. Dies verletzt ihn. Und: Kurt Landauer denkt immer wieder an seine ermordeten Geschwister und daran, dass es möglich ist, dass er beim vielen Händeschütteln auf den Fußballplätzen einem der Mörder unwissentlich die Hände schüttelt.        

Für Kurt Landauer wird es Zeit, seine Arbeit beim FC Bayern zu beenden. Der Verein hat nur mäßige sportliche Erfolge; viele Mitglieder wollen Landauers Abschied und wählen 1951 einen neuen Präsidenten.

Kurt Landauer zieht sich zurück. Endlich erhält er nach einem jahrelangen Gerichtsverfahren eine Entschädigung   für   die   Beschlagnahme   des   Besitzes   der   Familie   Landauer   durch   die Nationalsozialisten, so dass er sein Leben zumindest in finanzieller Sicherheit beschließen kann. Als der FC Bayern 1955 absteigt, unterstützt er den Verein nochmals finanziell, so dass der Spielbetrieb aufrechterhalten werden kann.                                         

1961 stirbt Kurt Landauer in München. Sein Grab liegt auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München-Freimann.

Und danach ? - Danach wird Kurt Landauer und seine Lebensgeschichte fast 50 Jahre völlig vergessen.

Die Deutschen interessieren sich nicht für ihr Verhalten in der NS-Zeit. Und der FC Bayern ist damit beschäftigt, in die 1962 neu gegründete Bundesliga aufzusteigen, was ihm auch 1965 gelingt. Die NS-Zeit hat der Verein nicht im Blick.

Aber um die Jahrtausendwende herum gerät etwas in Bewegung.

Ganz am Anfang steht das Interesse von Münchner Historikern und Journalisten am Schicksal Kurt Landauers.

Entscheidender wird jedoch, dass Fans des FC Bayern beginnen, sich für Kurt Landauer zu interessieren. 2002 gründen die „Ultras" des FC Bayern nach dem Sieg ihres Vereins in der Champions League die „Schickeria München". Diese Fan-Vereinigung sorgt einerseits mit Gesängen und Klatschen im Stadion für gute Stimmung. Andererseits bildet die „Schickeria" eine Gruppe politisch bewusster Fans, die sich zu einer antirassistischen Einstellung bekennen und bereit sind, sich gegen Rassismus und Antisemitismus zu engagieren. Diese Fans entdecken Kurt Landauer wieder.

Im Jahr 2006 veranstalten sie ihr erstes Fußballturnier um den Kurt-Landauer-Pokal mit sportlichen Wettkämpfen, aber auch mit der Vorführung der Filme „Nacht und Nebel" und „Schindlers Liste" sowie einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau. Dieses Turnier wird seit 2006 regelmäßig jedes Jahr ausgetragen.

Unter dem Einfluss des Engagements der „Schickeria" entsteht auch in der Vereinsführung des FC Bayern eine Offenheit für diese Thematik. Zum 125. Geburtstag von Kurt Landauer am 28. Juli 2009 treffen sich auf Einladung der KZ-Gedenkstätte und der evangelischen Versöhnungskirche Dachau circa 150 Menschen - darunter der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern, Karl-Heinz Rummenigge, sein Stellvertreter, Karl Hopfner, der Vizepräsident Dr. Fritz Scherer sowie circa 40 Mitglieder der „Schickeria" -, um Kurt Landauers mit einer Kranzniederlegung auf dem KZ-Gelände und einem Vortrag über das Wirken Kurt Landauers in München zu gedenken.

Im September 2009 organisiert die „Schickeria" beim Spiel gegen den 1. FC Köln eine Choreographie zu Ehren von Kurt Landauer im Stadion. In der Südkurve erstrahlt Landauers Porträt riesengroß und auf einem sich über die gesamte Länge der Südkurve erstreckenden Transparent steht geschrieben: „Der FC Bayern war sein Leben. Nichts und niemand konnte dies ändern !".

Ebenfalls 2009 sichert der neue Vorsitzende des FC Bayern, Uli Hoeneß, dem Filmprojekt „Kick it like Kurt" des Münchner Kreisjugendrings seine Unterstützung zu. Es entsteht ein „sensibel formuliertes Plädoyer für die Werte, denen sich Kurt Landauer verpflichtet fühlte: Toleranz, Fairness und Weltbürgertum" - wie die „Süddeutsche Zeitung" schreibt.

2013 ernennt die Vereinsführung Kurt Landauer posthum zum Ehrenpräsidenten des FC Bayern.

2014  gedenken die Fans in einer zweiten Choreographie Karl Landauers im Stadion. Für ihr jahrelanges Engagement wird die „Schickeria München" mit dem Julius-Hirsch-Preis des DFB für Freiheit, Toleranz und Menschlichkeit ausgezeichnet.

2015 wird der Platz vor dem Haupteingang der Allianz Arena nach Kurt Landauer benannt. Die Verantwortlichen des FC Bayern bekennen sich dabei zur Tradition der Weltoffenheit des Vereins.

Und am 20. Dezember 2017 - also vor gut vier Wochen - gründet die „Schickeria" die Kurt-Landauer-Stiftung, mit der sie an Kurt Landauer und die von ihm vertretenen Werte einer fortschrittlichen, liberalen und antirassistischen Gesellschaft und eines friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens aller Menschen unabhängig von ihrer Nationalität oder ethnischer und kultureller Herkunft erinnern.               

(Renate Taube)