27. Januar 2019 - Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus

 

 

 

Ziemlich genau vor 120 Jahren, am 30. Oktober 1898, wird in der kleinen Stadt Flöha bei Chemnitz ein Junge geboren, der den Vornamen Lothar erhält. Die Region um Chemnitz bildet zu dieser Zeit einen Schwerpunkt der Industrialisierung in Sachsen. Hunderte von Fabriken geben Zehntausenden Arbeitern Arbeit und Lohn, der allerdings so karg bemessen ist, dass er kaum für das tägliche Brot der Arbeiterfamilien reicht.

Lothars Eltern, Paul und Anna Kreyssig, gehören in Flöha zu den wohlhabenden Leuten. Der Vater ist zwar kein Fabrikbesitzer; aber als Kaufmann und Großhändler profitiert er sehr von der wirtschaftlichen Dynamik, die in der Region um 1900 herrscht.

Die strenge, aber auch den Wohlstand der Familie betonende Erziehung führt dazu, dass Lothar bereits als Gymnasiast den forschen Ton des Sohns eines reichen Vaters anschlägt und den Arbei­tern nicht viel mehr als Verachtung entgegenbringt. Er verehrt Kaiser Wilhelm II. als Oberhaupt eines Staates, der ihm als Sprössling einer wohlhabenden Familie alle Möglichkeiten eröffnet. Als 1914 der 1.Weltkrieg beginnt, macht Lothar rasch sein Notabitur, um mit 18 Jahren an der Front zu kämpfen. Das reale Kriegsgeschehen erlebt er jedoch als wenig erhebend. Als 1918 die Niederlage des Deutschen Reichs bevorsteht, flüchtet er mit einigen Kameraden vom Balkan zurück in die sächsische Heimat. So rasch wie möglich möchte er die Armee verlassen.

Dass Kaiser Wilhelm II. als einer der Hauptverantwortlichen für den 1. Weltkrieg 1918 zur Abdankung gezwungen und dass zum ersten Mal in Deutschland eine Demokratie eingeführt wird, lehnt Lothar Kreyssig ab. Der 20jährige Sohn eines begüterten Geschäftsmanns hat keinerlei Verständnis dafür, dass es in Deutschland mit der Demokratie nun eine Staatsform gibt, in der nicht mehr die Adeligen und die reichen bzw. gebildeten Bürger die Regeln für das Zusammen­leben der Menschen im Staat alleine bestimmen dürfen. Er hat keinerlei Verständnis dafür, dass bei Abstimmungen die Stimme eines Arbeiters genau so viel wert ist wie die Stimme eines reichen Mannes. Er hat keinerlei Verständnis dafür, dass nun in der Demokratie bei der Gesetzgebung auch auf die Interessen der Arbeiter Rücksicht genommen wird.

Lothar Kreyssig hält sich nach seiner Entlassung aus der Armee 1918 vor allem in seinen großbürgerlichen Kreisen auf: Er studiert in Leipzig Jura. Er ist Mitglied einer Studenten­verbindung und in einem rechten Freikorps. 1922 besteht er das juristische Staatsexamen, 1923 heiratet er die Tochter eines Geschäftsfreundes seines Vaters, die in den nächsten Jahren drei Söhne zur Welt bringen wird. Die junge Familie zieht zu Lothars Eltern in die Villa nach Flöha, wo sie auch wohnen bleiben, als Lothar 1926 seine erste feste Anstellung als Jurist am Landgericht Chemnitz erhält.

Im Haus des Vaters kommt Lothar weiterhin vor allem mit den wohlhabenden Bürgern, die den Freundeskreis seines Vaters bilden, in Kontakt. Für die einfachen Arbeiter hat er nur Verachtung übrig - wie auch für die Demokratie. Lothar rechnet nicht damit, dass wieder ein Kaiser die Herrschaft in Deutschland übernimmt. Er sieht aber in den Nationalsozialisten eine interessante Alternative, denn Hitler verspricht eine Zerstörung der Demokratie und die Errichtung einer autoritären Herrschaft eines „Führers". Lothar spricht dies an.

Dass die Nationalsozialisten auch in aller Offenheit davon sprechen, dass ihrer Meinung nach die Menschheit in „höherwertige" und „minderwertige" Rassen einzuteilen sei, dass die „arischen Deutschen" selbstverständlich der „höherwertigen Rasse" angehören, dass die Nationalsozialisten gegen jüdische Menschen als „Parasiten" hetzen und dass das Ziel der Nationalsozialisten „die Entfernung der Juden überhaupt" ist, nimmt Lothar Kreyssig nicht in dieser Deutlichkeit wahr.

 

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Dann kommt das Jahr 1928. Es wird ein Schicksalsjahr für Lothar Kreyssig werden:

- Zunächst einmal stirbt Lothars Vater. Er ist in einem Alter, in dem der Tod nicht überraschend kommt. Bedeutsam ist jedoch, dass der Tod den Sohn offenbar dazu bringt, zum ersten Mal ernsthaft über sein eigenes Leben nachzudenken - über den Sinn seines Lebens, über die Frage, wie er sein Leben sinnvoll gestalten könnte. Beinahe zufällig deutet er dies einem Gerichtskollegen gegenüber an. Dieser evangelische Christ bringt ihn in den Kontakt mit der Bibel, die Lothar zu lesen beginnt. In den nächsten 5 Jahren wird er, der zu Hause keine religiöse Bildung erhalten hatte, sich aufgrund eines sehr intensiven Bibelstudiums zu einem vom Glauben erfüllten Mann entwickeln.

- Das zweite, was sich nach dem Tod des Vaters verändert, ist, dass Lothar sein Leben in der Chemnitzer Villa zunehmend als oberflächlich und entfremdend wahrnimmt. Er beginnt ein Interesse am einfachen Leben auf dem Land zu entwickeln. Er besucht Lehrgänge zur ökologischen Landwirtschaft, in denen es vor allem um den verantwortungsvollen Umgang mit der Natur und den Tieren geht. Er erlebt diese Beschäftigung als so erfüllend, dass er sich auf die Suche nach einem passenden Bauernhof für die Familie begibt.

- Der dritte Punkt, der in dieser Zeit Lothar Kreyssigs Leben entscheidend prägt, ist der Kontakt mit seinem Vorgesetzten, dem Präsidenten des Landgerichts Chemnitz, Rudolf Ziel. Rudolf Ziel ist ein völlig anderer Mensch als Kreyssig. Er ist durch und durch ein liberaler Demokrat. Als Anhänger einer demokratischen Gewaltenteilung ist es ihm sehr wichtig, dass die Macht im Staat nicht bei einer Gruppe oder einer Person liegt, sondern auf mehrere verteilt ist, um einen Missbrauch politischer Macht zu verhindern. Rudolf Ziel sieht es auch als gerecht an, dass alle Bürger - auch die Arbeiter - ihre Abgeordneten ins Parlament wählen dürfen. Er findet es auch sinnvoll, dass in der Demokratie nur diejenigen Gesetze beschlossen werden, für die eine Mehrheit dieser Abgeordneten stimmt.

Die Aufgabe der Justiz ist für Rudolf Ziel, auf der Grundlage dieser niedergeschriebenen Gesetze Recht zu sprechen. Nicht Willkür soll herrschen und Angst, sondern das Recht soll für alle Bürger gelten. Darauf sollen sich alle Bürger stets berufen können. Diese Haltung Rudolf Ziels macht einen außerordentlich starken Eindruck auf Lothar Kreyssig. Er erlebt in Rudolf Ziel einen glänzenden Juristen, der mit jedermann - auch mit Lothar, mit dem er offen diskutiert und den er in seine Familie einlädt - menschlich umgeht und der ihn in seinem Rechtsbewusstsein schärft, dass die Gesetze für alle Bürger gleich gelten und dass jeder Willkür ein Riegel vorzuschieben ist.

Diese so reichen Begegnungen mit Rudolf Ziel führen allerdings nicht dazu, dass Lothar Kreyssig sich politisch von den Nationalsozialisten abwendet. Kreyssig lässt sich von den Reden Hitlers beeindrucken und wählt bei den Reichstagswahlen ab 1930 die NSDAP. Und als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wird, stimmt er dem zu.

 

Am 1. Februar 1933 löst der Reichspräsident auf Vorschlag Hitlers den Reichstag auf und setzt für den 5. März Neuwahlen an. Die Nationalsozialisten hoffen, dass sie dabei über 50 Prozent der Stimmen bekommen und dann ihre Politik gegen jeden Widerstand durchsetzen können. Sowohl in Deutschland als auch in Chemnitz beginnt die Zeit des offenen Terrors. Am 18. Februar wird in Chemnitz der erste Kommunist auf offener Straße erstochen, am 19. Februar ein Demokrat. Ende Februar kommt es zu einer Hetzjagd in Chemnitz auf SPD- und KPD-Politiker. Sie werden von den Nationalsozialisten unter dem falschen Vorwurf eingesperrt, am Brandanschlag auf den Reichstag in Berlin am 27. Februar schuld zu sein. Die Nationalsozialisten wollen ein Klima der Angst schaffen und damit erreichen, dass manipulierte Bürger der NSDAP als angeblich ordnende Kraft bei der Wahl eine deutliche Mehrheit verschaffen. Zunächst scheitern die Nationalsozialisten jedoch: Sie erhalten deutschlandweit nur 43,9 Prozent.

 

Für Lothar Kreyssigs Leben wird wohl entscheidend, was in Chemnitz direkt nach dem 5. März 1933 passiert: Sofort nach der Wahl besetzt die SA widerrechtlich wichtige Gebäude der Stadt: u.a. das Rathaus und das Landgericht. Kollegen von Kreyssig - Staatsanwälte, Landgerichts­direktoren, Rechtsanwälte - werden verhaftet. Am 8. März dringen 8 SA-Männer in das Dienstzimmer des Landgerichtspräsidenten Rudolf Ziel ein, bedrohen ihn mit ihren Waffen und verhaften ihn. Bei der Besetzung des Verlags der sozialdemokratischen Zeitung von Chemnitz erschießt ein SA-Trupp einen sozialdemokratischen Stadtrat. Viele der 3000 jüdischen Bürger von Chemnitz werden von der SA wie Vieh durch die Stadt getrieben, vielen werden Hakenkreuze ins Haar geschnitten, Hunderte werden eingesperrt. Am 10. März 1933 beruft die Chemnitzer NSDAP eigenmächtig eine Stadtratssitzung ein. Dies ist ein eklatanter Verstoß gegen geltendes Recht. Die NSDAP beruft sich auf einen angeblich vorhandenen „Volkswillen". In einer hass­erfüllten Atmosphäre treffen die Nationalsozialisten ihre ersten Beschlüsse. Diese Entscheidungen sind rechtlich ungültig, aber auf diese Weise vollzieht sich die Errichtung der NS-Diktatur.

 

Lothar Kreyssig erkennt, dass den Nationalsozialisten, die er bei der Reichswahl gerade noch gewählt hat, das Recht völlig egal ist. Die Nationalsozialisten wollen ihre politischen Gegner ausschalten, sie wollen ihre eigenen rassistischen Ziele in Deutschland umsetzen. Niemand hat ihrer Meinung nach auf einem bestehenden Rechtsgrundsatz zu bestehen, sondern gehorsam das als richtig, als „Recht" zu bezeichnen, was die Nationalsozialisten tun ! Obwohl die Nationalsozialisten nie bei einer freien Wahl die Mehrheit der Stimmen in Deutschland bekommen haben, behaupten sie stets, sie würden den sogenannten „Willen des Volkes" vertreten. Diesem „Willen des Volkes" habe sich das Recht nicht entgegenzustellen !

 

Kreyssig überlegt, ob er um die Entlassung aus dem Amt als Richter bitten soll, entscheidet sich dann aber dagegen. Er will sein Amt nicht jemandem überlassen, der den Nationalsozialisten völlig hörig ist. Kreyssig ist dies nach dem März 1933 nicht mehr: Als im Mai im Landgericht feierlich eine Hitlerbüste enthüllt wird und der Redner in SA-Uniform die versammelten Juristen hasserfüllt beschimpft, verlässt Kreyssig - die Tür laut hinter sich zuschlagend - den Raum.

 

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Mindest genauso entscheidend für Kreyssigs Wandlung wird eine andere Erfahrung sein, die er im folgenden Jahr macht:

Im Verlauf der letzten 5 Jahre ist Kreyssig durch seine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Bibel zu einem evangelischen Christen geworden, der überzeugt ist von der Güte Gottes, der Zuwendung Gottes jedem einzelnen Menschen gegenüber. Inzwischen haben in der evangelischen Kirche aber die sog. „Deutschen Christen" die Macht übernommen. Ihre Forderungen sind, alles „Jüdische" aus dem Christentum auszumerzen. Sie behaupten, dass Jesus ein Krieger und Held gewesen sei (statt einer, der am Kreuz sein Leben für die Menschen hingibt), und fordern, dass es ein „völkisches" Christentum geben müsse. Hitler sei ein Werkzeug Gottes.

Gegen diese Verfälschung der christlichen Lehre gründet sich im April 1934 die „Bekennende Kirche". Deren Pfarrer bekennen sich weiterhin zu den Aussagen der Bibel. Lothar Kreyssig fühlt sich der Bekennenden Kirche zugehörig. Hier findet er das, was ihn in der Bibel so berührt hat, wieder. Im September 1934 trifft er auf einer Versammlung in Chemnitz Hugo Hahn, eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche in Sachsen. Im Gespräch mit ihm fühlt Kreyssig sofort, dass er einem Menschen begegnet, der den nationalsozialistischen Anfeindungen widersteht und allein nach seinem Gewissen handelt. Kaum hat Kreyssig mit Hahn gesprochen, sprengt ein SA-Trupp diese Versammlung und treibt die Menschen mit Gewalt auseinander. - Genau dieser Vorfall führt dazu, dass Lothar Kreyssig sich ab nun in der Bekennenden Kirche engagiert:

- So hält Kreyssig für kleine Gruppen bekennender Christen abends in Wirtshäusern Bibelstunden ab. Manchmal sind dort auch „Deutsche Christen" anwesend, so dass viele Spitzelberichte über die Treffen vorliegen. Als Kreyssig beispielsweise eine Veranstaltung mit den Worten „Herr, lass uns nur dir allein dienen" beginnt, hält der eine Meldung verfassende Nationalsozialist fest, dass dieser Satz von einigen Anwesenden als Angriff auf den „Führer" Adolf Hitler verstanden wird.

Für Kreyssig sind diese Abende sehr wichtig. Um Ausführungen zu einer Bibelstelle in der Öffentlichkeit machen zu können, muss er sich selbst intensiv mit dem Text vorher beschäftigen. Diese gedankliche Auseinandersetzung schärft sein eigenes Gewissen für Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit und sein eigenständiges Denken. Dies macht ihn innerlich stärker.

- Im März 1935 verlesen circa 200 Pfarrer der sächsischen Bekennenden Kirche trotz Drohungen der Nationalsozialisten eine Botschaft während des Gottesdiensts, in der die rassistischen und völkischen Behauptungen der Deutschen Christen verurteilt werden und die Gläubigen aufgerufen werden, der christlichen Botschaft der Nächstenliebe die Treue zu halten. Unter den daraufhin von den Nationalsozialisten Verhafteten ist auch ein Chemnitzer. Kreyssig schreibt ihm einen Brief ins Konzentrationslager, in dem er das Vorgehen der Nationalsozialisten kritisiert und ihm versichert, jederzeit für ihn da zu sein. Auch dieser Brief landet bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo).

- Obwohl ab dem Sommer 1935 auf Druck des NS-Reichsstatthalters von Sachsen, Martin Mutschmann, gegen den Richter ein dienstliches Verfahren eingeleitet wurde, bekräftigen Kreyssig und andere führenden Männer der Bekennenden Kirche Sachsens ihre Kritik an den „Deutschen Christen". Zusätzlich jedoch schicken sie einen Brief an den Reichsinnen- und Reichsjustizminister. In diesem Brief kritisieren sie schonungslos die Zustände in den von den Nationalsozialisten eingerichteten Konzentrationslager: die Willkür der SS-Wachen, die Folterungen, die völlige Rechtlosigkeit der „Schutzhäftlinge". Dieser Brief trägt deutliche Hinweise auf seinen Verfasser Lothar Kreyssig. Kreyssig ist so weit, dass er bereit ist, das Unrecht des NS-Regimes schriftlich beim Namen zu nennen und anzuprangern.

 

1937 zieht die Familie Kreyssig um - von Sachsen nach Brandenburg in die Nähe von Berlin. Lothar hat endlich einen Bauernhof gefunden und beginnt - neben seiner Arbeit als Richter an einem Vormundschaftsgericht - voller Elan mit der ökologischen Landwirtschaft. Sein Hof wird die Heimat seiner Familie, aber auch ein Ort der Begegnung, da viele Mitarbeiter für die Arbeit auf dem Hof nötig sind und auch immer Platz für Menschen ist, die in Not sind und eine Unterkunft suchen.

 

Sein Engagement für die Bekennende Kirche nimmt Kreyssig nach kurzer Zeit auch in Brandenburg wieder auf:

- Er arbeitet an der Zusammenstellung der Fürbitten, mit deren Verlesung in den Gottesdiensten der von den Nationalsozialisten verhafteten Pfarrer und Laien öffentlich gedacht wird.

- 1938 schreibt Kreyssig einen Text für die Bekennende Kirche Berlin, in dem klar kritisiert wird, dass „in Deutschland ungehindert Unrecht geübt" wird. Nach der Verlesung des Textes in den Kirchen wird gegen Lothar Kreyssig ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren eingeleitet.

- Im April 1939 verbieten die „Deutschen Christen" in Brandenburg den Pfarrern der Bekennenden Kirche die Nutzung der Kirchengebäude für das Feiern von Gottesdiensten. Diese Maßnahme löst eine Flut von Protestbriefen aus. Viele normale evangelische Bürger kündigen an, dass sie keinem Pfarrer der „Deutschen Christen" erlauben würden, seine Irrlehren von ihrer Kanzel zu verkünden. Auch die Mitglieder der Bekennenden Kirche in dem von Kreyssig besuchten Gotteshaus wehren sich gegen die Übernahme ihrer Kirche durch die „Deutschen Christen". Am 30. April 1939 versucht ein Pfarrer der „Deutschen Christen" in dieser Kirche den Sonntagsgottesdienst zu halten. Kreyssig verwehrt ihm den Zutritt zur Kanzel, weist ihn auf das Unrechtmäßige seines Handelns und dessen ausdrückliche Ablehnung durch die anwesenden Gläubigen hin. Daraufhin wird Kreyssig von der in der Kirche anwesenden Gestapo verhaftet. Er wird zwar bald wieder entlassen; die „Deutschen Christen" stellen aber einen Strafantrag gegen ihn wegen Hausfriedensbruchs. Bei seiner Vernehmung durch die Gestapo bekennt Kreyssig: „Ich habe seit 1933 in meinem Beruf als Richter und in Erfüllung meiner kirchlichen Aufgabe Erfahrungen machen müssen, die mich zu dem Schluss nötigen, dass in der Partei zwar nicht nach dem Parteiprogramm (...), aber tatsächlich wirksame Kräfte vorhanden und maßgebend sind, die dem Christentum feindlich gesinnt sind". Diesen Kräften trete er entgegen.

 

Im Dezember 1939 wird gegen Lothar Kreyssig - ein zweites Mal nach 1935 - ein Dienststrafver­fahren angestrengt mit dem Ziel, ihn aus dem Justizdienst zu entfernen. Während 1935 sein Vorgesetzter in Sachsen ihm ein hervorragendes Zeugnis bzgl. seiner juristischen Qualifikation und seines aufrechten Charakters ausgestellt hatte und damit ein Vorgehen der Nationalsozialisten gegen Kreyssig unterbunden hatte, sieht die Situation 1940 anders an: Kreyssigs neuer Vorgesetz­ter in Berlin schreibt, Kreyssig biete nicht die Gewähr dafür, dass er rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintreten werde. Kreyssig halte es für seine übergeordnete Pflicht als Christ, nach seinem Gewissen zu handeln. Diese Einstellung sei für einen Beamten im NS-Staat untrag­bar. - Trotz dieses Berichts hat die Angelegenheit für Kreyssig zunächst keine größere Folgen.

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Doch dann verschärft sich die Situation 1940 noch einmal erheblich:

 

Am 8. Juli 1940 schreibt Lothar Kreyssig einen Brief an den Reichsjustizminister: Seit einigen Wochen bekomme Kreyssig als Vormundschaftsrichter auffällig häufig von Vormündern oder Pflegern geistig Behinderter Schreiben, in denen ihnen mitgeteilt werde, dass der Pflegling, nachdem er aus seiner früheren Einrichtung in die Anstalt von Hartheim in Österreich verlegt worden ist, überraschend verstorben sei. Bei ihm wecke diese Häufung der Todesfälle den Verdacht, dass diese Kranken in Hartheim getötet worden seien. Es sei zu vermuten, dass die Tötungen weiterhin geschehen. Kreyssig sehe es als seine richterliche Pflicht an, für das Recht der offensichtlich rechtlosen und der Willkür ausgesetzten Kranken und deren Angehörigen einzutreten. Er bittet den Justizminister um Aufklärung.

 

Was Kreyssig im Juli 1940 nicht weiß: Schon 1935 hatte Hitler angedeutet, dass er beabsichtige, geistig Behinderte „zu beseitigen". Ab 1937 waren viele Behinderte in meist fern der Heimat liegende Anstalten verlegt worden, so dass die Angehörigen sie kaum noch besuchen konnten. 1939 mussten die Behinderteneinrichtungen alle Kranken mit schweren Behinderungen melden. Anfang 1940 hatten die Nationalsozialisten im Geheimen mit der Tötung der Kranken begonnen, bis Juli 1940 bereits Tausende ermordet. Dies fällt Kreyssig auf. Er bittet den Minister um Rat.

 

Kurz darauf wird Kreyssig zum Kammergerichtspräsidenten nach Potsdam bestellt. Dieser erklärt ihm, dass das Schreiben an den Minister ungehörig sei und Kreyssig es zurückziehen solle. Dies lehnt Kreyssig ab.

Daraufhin wird er ins Justizministerium zitiert. Man teilt ihm mit, dass er als einziger der 1400 Vormundschaftsrichter eine Eingabe verfasst habe und dass an einer rechtlichen Grundlage der Tötungen, die vom Chef der Reichskanzlei Hitlers selbst angeordnet wurden, gearbeitet werde. Kreyssig reagiert auf dieses Treffen, indem er umgehend den Chef der Reichskanzlei Hitlers, Philipp Bouhler, beim Generalstaatsanwalt in Potsdam wegen Mordes anzeigt.

Und: Kreyssig untersagt sofort danach schriftlich allen Anstalten, in denen sich von ihm juristisch betreute Pfleglinge befinden, diese ohne seine Zustimmung zu verlegen. Die Anstalt in Branden­burg sucht er sogar persönlich auf und erklärt den versammelten Ärzten, den Tötungsmaßnahmen fehle jegliche gesetzliche Grundlage. Er verbietet ihnen jede Verlegung der Kranken. Daraufhin erhält er eine Anordnung des Justizministers, diese Weisungen zurückzunehmen, der Kreyssig aber nicht nachkommt.

Im November 1940 wird er nochmals zum Justizminister beordert. Dieser legt Kreyssig ein getipptes Schreiben mit dem Schriftzug Hitlers vor, in dem dieser die Tötung der Kranken als sog. „Gnadentod" erlaubt. Als Kreyssig darauf besteht, dass dieser Zettel keine ausreichende Grundlage für Massentötungen von Menschen sei, meint der Justizminister: „Wenn Sie nicht anerkennen (...), dass der Wille des Führers Recht schafft, können Sie nicht Richter sein." Kreyssig antwortet, dass dieser Gedanke ihn bereits länger beschäftige.

Am 12. Dezember 1940 wird Lothar Kreyssig vorläufig vom Dienst beurlaubt. Am 4. März 1942 wird er mit 44 Jahren in den Ruhestand versetzt. Als Begründung wird angegeben, Kreyssigs Einstellung beruhe auf einer Grundhaltung, die der nationalsozialistischen Staatsaufassung ent­gegengesetzt sei, da er auch im nationalsozialistischen Staat dem Recht Geltung verschaffen will.

Lothar Kreyssig zieht sich auf seinen Bauernhof zurück. Dort steht er ständig unter Beobachtung der örtlichen Nationalsozialisten. - Seit 1942 weiß er aber von der Deportation der jüdischen Bürger nach Osteuropa und deren Ermordung in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern. 1943 organisiert Kreyssig für zwei jüdische Frauen ein Versteck in Berlin. Eine der Frauen ist Gertrude Prochownik, die Witwe des Berliner Malers Leo Prochownik, deren Schwester und Schwager im November 1942 bereits nach Auschwitz deportiert worden waren. Als es in Berlin für die Frauen endgültig zu gefährlich wird, versteckt sie Kreyssig ab November 1944 auf seinem Bauernhof. Sie überleben. Und alle Mitglieder der Familie Kreyssig überleben auch.

 

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Da Lothar Kreyssig und seine Familie in Brandenburg wohnen, wird er nach 1945 ein Bürger der DDR. In sein Amt als Richter kehrt er nicht zurück. Stattdessen engagiert er sich - stets im Konflikt mit den Behörden der DDR - intensiv in der evangelischen Kirche der DDR. Er initiiert die Gründung der Evangelischen Akademie in Sachsen als Ort der Freiheit des Geistes, als Ort des religiösen Gesprächs, aber auch als Ort des Austauschs über politische und soziale Themen unter Christen und Nicht-Christen. Hier wird in den kommenden Jahrzehnten ein Platz für die entstehende Bürgerrechtsbewegung in der DDR sein. Besonders engagiert sich Kreyssig in den 1950er Jahren für eine Zusammenarbeit von evangelischen und katholischen Christen, in die er auch die jüdischen Mitbürger einbezieht.

Lothar Kreyssigs bedeutendstes Werk nach 1945 ist jedoch die Gründung der „Aktion Sühnezeichen". Diese wendet sich vor allem an die junge deutsche Generation mit dem Angebot, sich für diejenigen Menschen in Europa zu engagieren, denen vor 1945 von den Deutschen Leid zugefügt wurde. Kreyssig schreibt: „Wir bitten die Völker, die Gewalt von uns erlitten haben, dass sie uns erlauben, mit unseren Händen und unseren Mitteln in ihrem Land etwas Gutes zu tun: ein Dorf, eine Siedlung, eine Kirche, ein Krankenhaus (oder etwas anderes Gemeinnütziges) als Sühnezeichen zu errichten. Lasst uns mit Polen, Russland und Israel beginnen, denen wir wohl am meisten wehgetan haben."

Sein Aufruf stößt bei der deutschen Jugend auf einen starken Widerhall. Vielen jungen Menschen aus Ost- und Westdeutschland ist es wichtig, sich zu ihrer Verantwortung für ein friedliches Miteinander aller zu bekennen und der Welt mit ihrer Hände Arbeit zu zeigen, dass sie sich vom nationalsozialistischen Denken abgewendet haben. Die DDR-Behörden bekämpfen dieses Projekt sehr intensiv. Mit viel Einfallsreichtum schafft es Lothar Kreyssig jedoch, mit Zehntausenden jungen Deutschen Projekte in Norwegen, im englischen Coventry, in Frankreich, in Griechenland, in Israel, in der Tschechoslowakei, in Polen u.a. durchzuführen. In Auschwitz legen die Jugendlichen das Haus, in dem 1942, bevor die großen Vergasungsanlagen fertig waren, bereits Häftlinge vergast wurden, frei. Unter der Grasnarbe finden sie meterhoch Menschenasche von verbrannten Leichen. - Ein bis heute beeindruckendes Bauwerk, an dessen Errichtung junge Deutsche der „Aktion Sühnezeichen" beteiligt waren, ist die Versöhnungskirche im französischen Taize, die auch einigen Schülern und Lehrern des Grafinger Gymnasiums ein Begriff sein könnte.

1971 verlässt Lothar Kreyssig im Alter von 73 Jahren zusammen mit seiner Frau die DDR und zieht in die Nähe eines seiner Söhne in der BRD. Im Alter von 88 Jahren stirbt er 1986.

 

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Zum 100. Geburtstag von Lothar Kreyssig veranstaltet das Brandenburgische Oberlandesgericht 1998 eine Gedenkfeier. Ein Redner hält fest:

Lothar Kreyssig hat ohne Rücksicht auf sich selbst die Ermordung behinderter Menschen

in der Zeit des Nationalsozialismus als das behandelt, was es war

- ein durch nichts zu rechtfertigendes Unrecht.

In einer Zeit, als die Justiz sich (...) zu einem willfährigen Erfüllungsgehilfen staatlicher Willkür disqualifizieren ließ, erstattete Lothar Kreyssig Strafanzeige gegen den verantwortlichen Reichsleiter wegen Mordes.

(...)

Zivilcourage im Amt ist auch in unserer heutigen Demokratie unverzichtbar. Ohne das persönliche Engagement des Einzelnen gegen Willkür und Unrecht läuft die Gesellschaft Gefahr,

heute schon selbstverständlich geltende Werte zu verlieren. Jeder von uns ist gefordert, sich das bewusst zu machen und umzusetzen. "

 

Am 30. Oktober 2018 ehrt die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Lothar Kreyssig und seine Frau als „ Gerechte unter den Völkern ".