27. Januar 2021 - Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus

Lorenz

 

Am Anfang steht der Reißwolf. - Die Geschichte im Landkreis Ebersberg beginnt (oder endet) mit einer riesigen Aktenvernichtungsaktion. Akten aus Rathäusern, aus Landratsämtern, aus Betrieben, aus Vereinen finden ihren Weg in die Öfen, die die Gebäude heizen, und werden darin vollständig verbrannt … - Bei Kriegsende im Frühjahr 1945 haben viele Menschen im Landkreis Ebersberg kein großes Interesse daran, dass Unterlagen, die über ihr Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus Auskunft geben könnten, erhalten bleiben. Zu sehr sind Bürgermeister, Landräte, die NSDAP-Führung und viele, viele weitere Menschen in die Vorgänge verstrickt, die die Zeit des Nationalsozialismus geprägt haben. Ihre Gedanken sind: Wenn Beweise für mein Handeln nicht mehr vorhanden - respektive: in Rauch aufgegangen - sind -, dann kann ich mich entspannt zurücklehnen.

Und sowieso: Im Landkreis Ebersberg ist ja eh nichts passiert ! Wenn überhaupt etwas „Schlim-mes“ geschehen sein sollte, dann war das doch vor allem von der Reichshauptstadt Berlin aus, wo Hitler und die Nationalsozialisten regierten, gesteuert. Und überhaupt: Die „Preißn“, die haben doch Deutschland 1933-1945 regiert ! München, die „Hauptstadt der Bewegung“, liegt auch in weiter Ferne … in Bayern war doch alles in Ordnung … und im Landkreis Ebersberg doch erst recht … !

Und nachdem die allermeisten Unterlagen, die über die Wirklichkeit im Landkreis hätten Aufschluss hätten geben können, vernichtet sind, muss auch kaum einer über sein persönliches Verhalten oder das seiner Freunde und Bekannten und Nachbarn in der vergangenen Zeit mehr nachdenken, sich daran erinnern oder es gar hinterfragen.

Wer in Grafing weiß z.B. heute, dass die NSDAP bei der Wahl im März 1933 in Grafing circa 58 % der Stimmen bekommt (- das NSDAP-Ergebnis auf Reichsebene liegt bei 43 %) ?

Wer in Grafing kennt z.B. den Grafinger Arzt, der schon 1929 in die NSDAP und 1931 in die SS eintritt und danach als „geistiger Vater“ der „Führerschule der deutschen Ärzteschaft“ die nationalsozialistischen Richtlinien erarbeitet, nach denen eine „Elite“ nationalsozialistisch eingestellter Ärzte geschult wird, um die rassistischen Vorgaben der Nationalsozialisten im Bereich der Behandlung kranker Menschen rigoros durchzusetzen ?

Wer in Grafing kennt z.B. den Grafinger Arzt, der als Lagerarzt des Konzentrationslagers Dachau Tausenden von Häftlingen beim Leiden und Sterben zusieht, bei Folter und Hinrichtungen mitmacht und sich an medizinischen Menschenversuchen an KZ-Häftlingen beteiligt, die - für die Opfer mit schwersten körperlichen und seelischen Verletzungen verbunden - meist mit dem Tod der Häftlinge enden ?

 

Nicht viele wissen heute etwas davon. Und auch an die Verfolgten und Ermordeten aus dem Landkreis Ebersberg erinnert man sich kaum.

Wer erinnert sich an Martha Pilliet ( + 1942) ? (Gedenkblatt zum 27. Januar 2008)

Wer gedenkt Pauline Malterer (+ 1943) ?

Wer erinnert an Alfons Pressburger (+1933) ?

Wer kennt Hans Haberl ?

Wer weiß um Lorenz D. ?

 

Heute erinnern wir an Lorenz D.

 

 

Lorenz

 

Lorenz wird am 20. April 1937 in Grafing geboren. Seine Eltern kommen aus einfachen Verhältnissen; Sein 36jähriger Vater arbeitet als Hammerschmied - vermutlich in der vom Wasser der Urtel angetriebenen Hammerschmiede in Grafing. Seine Mutter ist Hausfrau.

 

Über die ersten sechs Jahre von Lorenz´ Leben ist kaum etwas bekannt. Er wächst wie alle Grafinger Kinder auf der Straße, auf den Wiesen, in den Wäldern der Umgebung auf. Im August 1942 kommt ein kleines Schwesterchen - Maria Theresia - zur Welt. Lorenz geht wie alle anderen Kinder in den Kindergarten. Er ist hilfsbereit und geht seiner Mutter zur Hand.

 

Im April 1943 wird Lorenz 6 Jahre alt. Einige Wochen später werden er und seine Mutter aufgefordert, zu einer Untersuchung ins Ebersberger Gesundheitsamt kommen. Der Anlass: Die Enkelin der Frau, die in ihrem Haus eine Wohnung an die Eltern von Lorenz vermietet, hatte sich über das Verhalten von Mutter und Sohn beschwert.

Der Leiter des Gesundheitsamts, Dr. Ernst Müller, bezeichnet die Mutter nach diesem Termin in seinem Gutachten als „geistig minderwertig“. Sein Urteil über den kleinen Lorenz fällt noch drastischer aus: Lorenz sei „schwachsinnig“. Er solle für kurze Zeit auf der Kinder-station der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar beobachtet werden, dann eine Hilfsschule besuchen und - weil Lorenz großes Interesse an der Arbeit seines Vaters zeigt - eine Ausbil-dung machen, da - wie der Arzt festhält - „ein gewisser Grad an Bildungsfähigkeit vorhanden“ sei.

 

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Was bedeutet eine solche Aussage eines Arztes in der Zeit des Nationalsozialismus ?

 

Die Nationalsozialisten sind der Überzeugung, dass die Deutschen eine „Herrenrasse“ sind, die andere Völker kriegerisch unterwerfen und versklaven, deren Land in Besitz nehmen und diesen neuen „Lebensraum“ mit Menschen ihrer eigenen „Herrenrasse“ besiedeln, In einer solchen deutschen Gesellschaft, einer „nationalsozialistischen Volks- und Kampfgemein-schaft“, die vor allem in Polen und der Sowjetunion den neuen „Lebensraum“ erobern will, ist kein Platz für Menschen des eigenen Volkes, die schwächer sind und daher ungeeignet, bei der Eroberung des „Lebensraums“ mitzukämpfen. Für Hitler sind solche schwächere Men-schen „Ballastexistenzen“.

1933 kommen die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht. Im Jahr 1939 werden Ärzte und Hebammen von den Nationalsozialisten angewiesen, Kinder mit angeborenen Leiden den Gesundheitsämtern zu melden. Gegenüber den Angehörigen wird der Anschein erweckt, es gehe um eine besonders gute medizinische Betreuung dieser Kinder - was aber nicht stimmt. Die Meldebögen landen umgehend auf Schreibtischen von Nationalsozialisten, die auf Grundlage dieser Meldebögen - ohne das Kind je gesehen zu haben - ihr Urteil über das Kind sprechen. Die Kinder werden in „Kinderfachabteilungen“ der vorhandenen „Heil- und Pflegeanstalten“ eingewiesen, wo es darum geht, die Arbeits- und Bildungsfähigkeit des Kindes ein letztes Mal zu prüfen.

 

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Die Eltern von Lorenz wissen nicht, in welcher Gefahr Lorenz nach seiner „Begutachtung“ durch das Ebersberger Gesundheitsamt schwebt. Die nächsten Monate verlaufen ganz normal; niemand weiß, was an Papieren über den kleinen Lorenz über die Schreibtische national-sozialistischer Beamten und Ärzte geht.

 

Und dann passiert Ende August 1943 ein tragischer Unfall: Lorenz´ Mutter hat gerade kochend heißes Wasser vom Herd in eine Badewanne geschüttet, um Lorenz´ Schwester zu baden. Bevor sie dazu kommt, Wasser aus dem Wasserhahn hinzufließen zu lassen, wird sie zur Wohnungstür gerufen und lässt Lorenz unbeaufsichtigt allein. Der hilfsbereite Lorenz nimmt wohl seine kleine Schwester auf den Arm und legt sie in die Wanne … - am nächsten Tag stirbt das Mädchen an seinen Verbrühungen.

 

Gegen die Mutter ermittelt die Polizei wohl nicht weiter. Lorenz aber wird seinen Eltern weg-genommen und in die „Kinderfachabteilung“ der „Heil- und Pflegeanstalt“ Haar eingewiesen.

Dort rasiert man ihm - so lassen es die Fotos aus dem „Kinderhaus“ vermuten - die Haare ab und er muss schauen, wie er mit seinen 6 Jahren mit der neuen Situation zurechtkommt. -

Wie wird er sich ohne seinen Papa und seine Mama gefühlt haben ? - Verwirrt - verlassen - unsicher - voller Angst - voller Panik …

Ab jetzt unterliegt Lorenz - ohne dass ihm das bewusst ist - einer ständigen Beobachtung durch Krankenschwestern und Ärzte, die über seinen „Wert“ oder „Unwert“ für die nationalsozialistische Gemeinschaft entscheiden werden.

Im Oktober 1943 halten die Ärzte in seiner Akte fest: „hat primitives Sprachverständnis. Ruhig, stumpf. Nicht mehr im Kindergarten, da nichts zu fördern“ … Und wenige Zeit später notiert der Anstaltsarzt über Lorenz: „Schwachsinn stärkeren Grades, der als angeboren anzusehen“ sei. „Von einer schulischen Ausbildung“ sei „bei dem geistigen Rückstand des Jungen“ wohl „keinerlei Erfolg zu erhoffen“. - Der Haarer Arzt fällt also ein völlig anderes Urteil über Lorenz als der Leiter des Gesundheitsamts Ebersberg. Lorenz wird nicht nach Hause entlassen und darf auch keine Hilfsschule besuchen, sondern muss in der Anstalt Haar bleiben.

Eine wichtige Rolle spielt weiterhin die Enkelin der Grafinger Vermieterin, die eine - wie sie schreibt - „Freigabe des Jungen“ aus der Haarer Anstalt unbedingt verhindern will und sich in einem Brief an den Anstaltsleiter über Mutter und Sohn herabwürdigend auslässt: Lorenz sei „geistesgestört“ und „ausgesprochen bösartig“, die Wohnung der Familie „auf das Schlimm-ste verwahrlost“, die Mutter als „Mutter und Erzieherin (…) völlig unfähig (…) Heil Hitler !“

Im November 1943 füllt der Leiter der Anstalt Haar, Dr. Pfannmüller, den Meldebogen zu Lorenz aus und schickt ihn ab.

 

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Die Mutter von Lorenz kämpft um ihr Kind. Sie ist eine einfache Frau. Sie bettelt beim Ebersberger Gesundheitsamt um die Entlassung von Lorenz aus dem „Kinderhaus“ nach Hause. Das Gesundheitsamt Ebersberg warnt die Haarer Ärzte: Die Mutter dürfe ihr Kind keinesfalls besuchen, weil damit zu rechnen sei, dass sie es mit nach Hause nehmen - „gewaltsam entführen“ - wolle.

Auch der Vater kämpft um seinen Sohn. Er hat das Sorgerecht für Lorenz, weshalb er seinen Sohn eigentlich einfach in Haar abholen könnte. Die Haarer Ärzte fordern daraufhin das Gesundheitsamt in Ebersberg auf, Lorenz wegen angeblicher „Gemeingefährlichkeit“ offiziell in Haar einweisen zu lassen.

Im Mai 1944 trifft der Ebersberger Landrat die Entscheidung über Lorenz: Wegen „gemeingefährlicher Geisteskrankheit“ sei der 7-jährige Bub in der Heil- und Pflegeanstalt Haar wegzusperren.

Nun kämpft die Großmutter von Lorenz um ihren Enkel. Sie droht mit einem Rechtsanwalt, falls die Haarer Anstalt Lorenz nicht sofort in ihre Obhut entlasse. Der Anstaltsarzt verhindert dies. - Mutter, Vater und Großmutter können Lorenz nicht mehr helfen.

Bald darauf wird in Haar auf die Patientenakte von Lorenz ein großes „E“ gestempelt - „E“ für „Ermächtigung“. Im entsprechenden Schreiben an die Ärzte heißt es: „ Hiermit ermächtige ich Sie, den seit einiger Zeit bei Ihnen befindlichen Lorenz D. in Reichsausschuss-Behandlung zu nehmen“ - das also ist die harmlose nationalsozialistische Wortwahl für das, was mit Lorenz geplant ist.

Die „Behandlung“ von Lorenz beginnt. - Am 28. Januar 1945 notieren die Haarer Ärzte in Lorenz´ Akte: „Seit einigen Tagen Husten, Temperaturen, bronchitische Geräusche über beide Lungen, vereinzelt bronchiales Atmen“. Lorenz werden offensichtlich immer wieder überdosierte Medikamente wie Luminal oder Morphin ins Essen gemischt, was mit der Zeit - vor allem in Verbindung mit einer gleichzeitigen Unterernährung - zu Atemlähmungen oder Lungenentzündungen führt. Diese „Behandlung“ war vom späteren Leiter der „T4-Euthanasie-Aktion“, Paul Nitsche, Anfang 1940 entwickelt worden. Auf diese Weise kann von den Ärzten nach der Ermordung des Kindes stets eine scheinbar natürliche Todesursache angegeben werden …

Am 1. Februar 1945 - vier Monate vor dem Ende der Herrschaft der Nationalsozialisten im Mai 1945 - schreiben die Ärzte in Lorenz´ Akte: „Exitus unter hohem Fieber“. An demselben Tag erhalten die Eltern in Grafing per Telegramm die Nachricht vom Tod ihres Sohnes.

 

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(Renate Taube)