„Du kriechst in das kleinste Loch, weil Du überleben willst“

                                                                                            

                                                                                                                 „Du kriechst in das kleinste Loch, weil Du überleben willst“ -

                                                                                                                   das Erinnern der Schülerinnen und Schüler der Klasse 9a 

                                                                                                                        an das 15-jährige jüdische Mädchen Klara Szwarc

                                                                                                                        am „Tag der Quellen“ des Münchner Volkstheaters

 

Die Ukraine im Jahr 1942: Nachdem Hitler-Deutschland im Juni 1941 die Sowjetunion überfallen hatte, marschierten Hunderttausende deutscher Wehrmachtsoldaten auch in die damals zur Sowjetunion gehörende Ukraine ein. Die Ukraine sollte ihres Getreides und ihres Viehs beraubt werden, das nach Deutschland gebracht werden und dort das deutsche „Herrenvolk“ ernähren sollte. Mit dem Einmarsch in Kiew begannen die Deutschen auch sofort mit der Ermordung der Juden in der Ukraine. In Babyn Jar wurden bereits im September 1941 in Zusammenarbeit von Wehrmacht und SS in nur zwei Tagen über 33 000 jüdische Bewohner Kiews erschossen.

In Zolkiew - dem heutigen westukrainischen Schowkwa - lebt zu dieser Zeit eine größere jüdische Gemeinde, deren Mitglieder sofort nach der Besetzung der Stadt von der SS  - zum Teil unter Mithilfe ukrainischer Hilfspolizisten - drangsaliert, erniedrigt, geschlagen, zur Zwangsarbeit gezwungen, ausgeraubt, gefoltert und auf offener Straße getötet werden. Nachdem im März 1942 die Deutschen im neuen, ungefähr 50 Kilometer von Zolkiew entfernten Vernichtungslager Belzec drei Gaskammern fertiggestellt haben, beginnen sie mit dem systematischen, perfekt organisierten Massenmord an den ukrainischen Juden. Ab dem Sommer 1942 fahren die Deportationszüge von Lwiw über Zolkiew direkt ins Vernichtungslager Belzec, in dem die Menschen sofort ermordet werden.

In Zolkiew lebt zusammen mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester das 15-jährige Mädchen Klara Szwarc. Wie alle anderen jüdischen Bewohner Zolkiews schwebt die Familie ständig in akuter Gefahr, von der SS gefasst und umgebracht zu werden. In seiner Not entscheidet sich der Vater zu einer sehr ungewöhnlichen Aktion: Zusammen mit zwei weiteren jüdischen Familien graben die Szwarcs im Sommer 1942 unter dem Dielenboden eines Hauses ein Erdloch, in dem sich ungefähr zehn Menschen verstecken können. Die Mieter des Hauses, Julia und Valentin Beck, erklären sich bereit, die Versteckten mit Essen zu versorgen.

Als die Deutschen am 22. November 1942 mit der Verhaftung von über 2000 Menschen einen weiteren Massenmord an den jüdischen Bewohnern Zolkiews vorbereiten, verschwinden die drei Familien und mit ihnen Klara in dem Erdversteck, das sie danach kaum noch verlassen können. Bis Juli 1943 wird nahezu die gesamte jüdische Bevölkerung Zolkiews ermordet. 

In den 18 Monaten, in denen die drei Familien in dem Erdloch ausharren müssen, bevor die russische Armee im Juli 1944 Zolkiew befreit, schreibt die 15-jährige Klara ein Tagebuch.

Einen Ausschnitt aus diesem Tagebuch trugen 17 Schülerinnen und Schüler der Klasse 9a des Grafinger Max-Mannheimer-Gymnasiums am diesjährigen „Tag der Quellen“ des Münchner Volkstheaters am 7. Juli 2022 vor. Die Schüler präsentierten der Öffentlichkeit ein berührendes Dokument des Leids, der Angst vor Entdeckung, des Schmerzes angesichts des Verlusts von Freunden, der Verzweiflung, aber auch des Überlebenswillens der Menschen, der Sorge der Helfer um die Versteckten, der Tapferkeit des 15-jährigen Mädchens.

Klara Szwarc und ihre Eltern überleben; die kleine Schwester wird, als sie bei einem Brand in der Nachbarschaft voller Panik aus dem Versteck rennt, gefasst und ermordet.

Durch ihr öffentliches Erinnern an Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft auf der Bühne des Münchner Volkstheaters setzen sich die Schüler dafür ein, dass diese Vergangenheit nicht vergessen wird. 

  • Die 15-jährige Theresa Schreiner aus der 9a ist überzeugt: „Die Zeit des NS-Regimes wird nie nicht mehr aktuell sein. Wie Max Mannheimer sinngemäß gesagt hat: Wir sind heute zwar nicht dafür verantwortlich, was damals passiert ist, aber sehr wohl dafür, dass es nicht wieder geschieht. Das ist nur möglich, wenn wir um die Vergangenheit Bescheid wissen.“ Ihre Mitschülerin Mona Lehner erklärt: „Wir wollen uns bewusst machen, dass das alles wirklich passiert ist. Und wir wollen uns dadurch im Klaren sein, dass Ähnliches auch heute noch passieren kann und dass es an uns liegt, dies zu verhindern“. „Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, die uns dabei helfen, frühere Fehler nicht zu wiederholen“, ist auch Sebastian Schwankes Haltung. Und sein Freund Alexander Dumser ergänzt: „Mir ist es sehr wichtig, die Geschichte der NS-Zeit niemals in Vergessenheit geraten zu lassen, denn sie kann uns lehren, uns die Augen öffnen und uns in der Gegenwart zügeln“. 
  • Auch ein weiteres Anliegen formuliert Alex: „Das Allerwichtigste am Tag der Quellen ist, dass er uns die Chance gibt, den Opfern die Würde wiederzugeben, die ihnen einst genommen wurde. Indem wir der Opfer gedenken und ihnen eine Stimme geben, lassen wir sie nicht in Vergessenheit geraten, denn ein Mensch stirbt erst dann wirklich, wenn man ihn vergisst.“ Für Theresa ist „die Vorstellung traurig, dass es auch viele Opfer gibt, an die sich niemand erinnert, die einfach vergessen werden, als ob sie nie gelebt hätten …“. Und ihre Mitschülerin Johanna Zwick fügt hinzu: „Würden wir diese Zeit und die NS-Opfer vergessen, würden wir auch den Schmerz, die Verluste und das Leiden dieser Menschen vergessen. Das wäre nicht in Ordnung.“ 
  • Auch die 15-jährige Mona weiß ganz genau, weshalb sie sich am „Tag der Quellen“ engagiert hat: „Nachdem wir an der Vergangenheit nichts mehr ändern können, denke ich, dass der einzige Weg, den Opfern des Holocausts ihren verdienten Respekt zu geben, ist, sie nicht zu vergessen. Nicht zu schweigen über sie, sondern an sie zu erinnern. Wenn man immer sagt, dass andere das schon machen, dass andere sich schon darum kümmern, an die Opfer des NS-Regimes zu erinnern, dann ist das für mich die falsche Einstellung. Jeder sollte seinen eigenen Beitrag leisten, soweit es geht. Die Geschichte der Klara Szwarc hat mich innerlich sehr berührt und mich ihr nahe gebracht; das macht mich glücklich und dankbar. Ich sehe am Tag der Quellen eine Chance, meinen Teil beizutragen, den Zuhörern Klaras Schicksal so nahezubringen, dass es auch sie berührt.“
  • Dass sie es sehr schön finden, dass ein so großes Theater wie das Münchner Volkstheater dazu einlädt, die Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten in der NS-Zeit nicht zu vergessen, und dass das Theater vor allem Jugendliche dazu einlädt, bei diesem wichtigen Thema auf der Bühne zu stehen, heben besonders Sophia Vogl und Johanna Zwick hervor. „So hat jeder Jugendliche, der an die NS-Opfer erinnern will, auch die Möglichkeit dazu, dies zu tun, und zwar gemeinsam mit anderen Jugendlichen.“ Und Juliane Braunmüller ergänzt: „Meine Mitschüler und ich dürfen zeigen, dass wir das nationalsozialistische Denken als falsch ansehen und in einem u.a. in Bezug auf Farbe, Geschlecht und Religion toleranten Land leben wollen. Deshalb empfinde ich es als wirklich schön, gerade als Jugendliche an einer solchen Veranstaltung des Münchner Volkstheaters aktiv teilnehmen zu können.“ 
  • Und was die Neuntklässler besonders geschätzt haben, war die gemeinsame Arbeit an dem Projekt, das sie in ihrer Freizeit auf die Beine gestellt haben. Benedikt Funck sagt: „Es war ein großartiges Erlebnis, uns dieses Erinnerungsprojekt zu erarbeiten und dabei uns intensiv gemeinsam damit zu beschäftigen und wahrzunehmen, wie viel Zeit jeder von uns investiert und wie wichtig jedem Einzelnen von uns diese aktive Erinnern an Opfer des Nationalsozialismus ist. Dieses Projekt hat uns auch untereinander näher gebracht.“

Allen Schülern der 9a des Max-Mannheimer-Gymnasiums ist bewusst, dass der 7. Juli 2022  -  der „Tag der Quellen“  -  der 134. Tag des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine ist.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Renate Taube