Literarischer Herbst 2013: Schreibwettbewerb am GG

Seit Jahren findet am Gymnasium Grafing der Schreibwettbewerb statt, an dem sich die Schüler aller Jahrgangsstufen beteiligen können. Sieben Schüler und Schülerinnen lasen dieses Jahr ihre Texte vor, die allesamt unter dem Motto ,, Ziemlich beste Freunde" standen.
Den dritten Platz belegte dabei Henry Miller (8f) mit seiner Erzählung ,,Der Freund von jedem", der das Thema der Freundschaft im Zeitalter von Facebook, Twitter und Co. thematisiert.
Auf den Plätzen zwei und eins fanden sich Katrin Müller (Q 12) mit ihrer knappen, sehr verdichteten Geschichte ,,Zigaretten, Rauch" zum Vietnamkrieg sowie Celine Schmidtke (9a) mit ,,Zweites Ich" ein.
Nachfolgend finden Sie die drei Gewinnergeschichten.

Henry Miller: Der Freund von jedem

Ich habe keine Freunde, aber daran habe ich mich schon gewöhnt. Eigentlich war es mir auch nie wichtig gewesen. Ich habe andere Interessen, meine Kleidung ist nicht auf dem neuesten Stand, und insgesamt kann man mich sehr gut von den anderen Jungs unterscheiden. Aber seit letzter Woche war es mir plötzlich wichtig, einen Freund zu haben, ich würde sogar alles dafür geben. Seit letztem Montag sollte sich in meinem Leben so einiges ändern, ein Leben ohne Freundschaften wollte ich nicht mehr führen. „Eure Hausaufgabe ist es, einen eurer Freunde vorzustellen und zu erklären, warum er euer Freund ist.“ Ein Schauer lief mir durch den Körper. Eine Frage, die für mich so ziemlich unmöglich zu beantworten war. Aus Filmen, in denen es um eine besondere Freundschaft ging, wusste ich vielleicht, was einen Freund ausmachte. Aber gefühlt hatte ich es noch nie. Die Schulklingel rasselte und die Schüler stürmten aus dem Klassenzimmer. Ich hingegen rannte schnell ans Pult zu Herrn Lindner, unserem Deutschlehrer. Eigentlich mochte ich ihn, doch durch diese Hausaufgabe erschien er mir plötzlich nicht mehr so toll: „Ich kann diese Hausaufgabe nicht machen.“ Herr Lindner sah mich verwundert an. Ich zögerte erst: „Ich … ich habe keine Freunde.“ Er zog seine Augenbrauen hoch, doch dann lächelte er. „Ich bin mir sicher, es gibt jemanden, jemand, zu dem du eine besondere Beziehung hast. Es muss nicht einmal ein Mensch sein, zur Not sogar ein Haustier.“ Ja, das war gut. Erleichterung breitete sich in mir aus. „Ja, ich werde mir gleich eins kaufen“, sagte ich schnell und lief schon los. Herr Lindner lachte: „Warte, so schnell geht das nicht! Eine Freundschaft braucht Zeit, das geht nicht von heut auf morgen. Es gibt bestimmt einen Freund in deinem Leben, auch wenn du ihn nicht als einen erkennst, da bin ich mir sicher. Am Mittwoch erwarte ich eine Hausaufgabe von dir.“Der Schulweg nach Hause war schrecklich. Mir schwebte schon vor Augen, wie mich am Mittwoch alle auslachen würden. Eine Träne lief mir über die Wange. Daheim angekommen setzte ich mich als erstes an meinen Computer, um in Facebook zu gehen, einem sozialen Netzwerk. Ich hatte mir dort einen Account erstellt, um auf diese Art vielleicht Freunde zu finden. Fast niemand ging auf meine Nachrichten ein außer …! Timo - natürlich! Wieso war ich da nicht früher drauf gekommen. Timo war ein Junge aus unserer Schule, so stand es zumindest in seinem Profil auf Facebook, deswegen hatte ich ihm auch eine Freundschaftsanfrage gesendet. Wir schrieben des Öfteren miteinander und hatten dieselben Interessen. Das war meine Rettung, oder? Ich wurde unsicher, denn ich kannte Timo ja nur über das Internet. Aber heutzutage trafen sich doch viele Menschen auf diese Weise. Ja, Timo sollte mein Freund werden, mein echter Freund. Bis Mittwoch sollte ich wissen, was ein echter Freund ist, das war mein Ziel und auch, was ich wollte. Ich loggte mich also in Facebook ein, tippte den Namen Timo Berghammer und schon stand dort alles Wichtige, was ich brauchte, um ihn zu finden: Timo Berghammer, sechzehn Jahre alt, geht auf das Gymnasium Neuperlach Süd. Sechzehn Jahre? Er war also vier Jahre älter als ich. Schon schien der Plan zu zerfallen. Nein, egal wie alt er war, wir hatten schon tolle Gespräche geführt, na ja wenn man das als Gespräch bezeichnen kann. Morgen würde ich ihn in der Schule ansprechen, er wird sich freuen, mich einmal in echt zu sehen. Ich natürlich auch, vielleicht sogar ein bisschen mehr. Am Abend konnte ich gar nicht richtig einschlafen, ich war viel zu aufgeregt. Natürlich nagten auch Zweifel an mir, was, wenn er nein sagte? Aber irgendwie war die Hoffnung größer. Vor meinen Augen schwebte die Fantasie einer perfekten Freundschaft, die mich langsam in den Schlaf wiegte. Am nächsten Morgen wachte ich auf und hatte zunächst dasselbe Gefühl wie immer am Morgen. Nein, Schule! Bis mir wieder Timo einfiel. Der Gedanke machte mich hellwach und gute Laune erfasste mich. Im Schulbus setzte ich mich wie immer in die letzte Reihe, als mir ein Gedanke durch den Kopf schoss. War Timo vielleicht schon hier im Bus? Als ich mich dann umsah, wurde mir plötzlich etwas klar. Verdammt! Wie sollte ich Timo überhaupt finden? Wegen all der Vorfreude hatte ich das total vergessen. Als Profilbild hatte er ja nur ein Bild von Bastian Schweinsteiger. Alles, was ich wusste, war, dass er auf unsere Schule ging und sechzehn Jahre alt war. Aber auf unsere Schule gingen über tausend Schüler, wie sollte ich ihn finden? Da schoss mir die rettende Idee in den Kopf. Ich musste einfach nur zum Sekretariat gehen und dort nach ihm fragen. Die Anspannung in meinem Körper löste sich langsam auf. In der Schule angekommen beschloss ich, noch vor Unterrichtsbeginn im Sekretariat nachzufragen, um Timo gleich in der Pause suchen zu können. Ich hatte noch circa 20 Minuten, also konnte ich mir Zeit lassen. Im Sekretariat war ich der einzige, deshalb konnte ich auch gleich nachfragen. Die Sekretärin lächelte mich an: „Wie kann ich dir behilflich sein?“ Dankbar lächelte ich zurück und antwortete:
„Ich suche einen Jungen namens Timo Berghammer, ich wollte fragen, in welche Klasse er geht. Er ist sechzehn Jahre alt.“ Die Frau holte einen Ordner heraus und blätterte darin herum. Nach einer gefühlten Ewigkeit sah sie wieder zu mir hoch. „Es tut mir sehr leid, aber an dieser Schule gibt es keinen Timo Berghammer.“ Ich sah die Frau verwirrt an. Es gab keinen Timo? Was sollte ich denn jetzt machen? Die Frau blätterte noch einmal in ihrem Ordner. Gerade als ich wieder gehen wollte, rief sie: „ Warte, es gibt an dieser Schule nur zwei Timos, einer von ihnen geht in die sechste Klasse und heißt mit Nachnamen Fürst, ein anderer in die neunte und heißt Schmidt.“ Ein Funken Hoffnung munterte mich auf. „ Vielen Dank.“ Die Frau lächelte: „ Keine Ursache.“Nach drei qualvollen Unterrichtsstunden, die ich nur mit Denken an „den“ Timo verbracht hatte, begann endlich die Pause. So viele Fragen hatten sich in meinem Kopf angesammelt. Gab es überhaupt einen echten Timo? Wenn ja, ging er auf unsere Schule? Und warum hatte er mir nicht vertraut und mir seinen echten Namen gesagt? Auf dem Pausenhof entdeckte ich die Gruppe von Sechstklässlern, die immer an derselben Ecke stand. Ich wunderte mich auch, warum Timo mir nicht sein echtes Alter gesagt hatte. Als ich näher kam, drehte sich einer der Schüler zu mir um: „Was willst denn du?“ Die Sechstklässler drehten sich zu mir um. Sie waren alle einen Kopf kleiner als ich, schienen aber keinen Respekt vor mir zu haben, da ich alleine war. „Wo ist denn Timo, Timo Fürst“, fragte ich unsicher. Ein Junge im blauen Anorak mit blonden Haaren kam auf mich zu und sah mich ein wenig misstrauisch und auch ein wenig ängstlich an. „Was ist?“, fragte er. Ich wusste erst nicht, was ich sagen sollte, doch dann entschied ich mich dafür: „Timo Berghammer?“ Wenn er es war, wüsste er schon, um was es ging. Der Junge sah mich an, als wäre ich das Seltsamste, was er je gesehen hatte: „Hä, wer?“ Die anderen Jungs lachten. Er war es nicht, der Timo, den ich kannte, war doch ganz anders. Ich drehte mich um und ging weg. Die Sechstklässler sahen mir nur verwundert hinterher. Jetzt gab es also nur noch eine Person, die in Frage kommen würde. Mir ging es gar nicht mehr um die Hausaufgabe, ich wollte Timo kennen lernen, ich wollte, dass er mein Freund wird. Timo Schmidt aus der neunten Klasse, er musste es sein. Ich kannte jemanden aus der neunten, Frank, der hat mal mit mir ein Zelt in einem Sommercamp geteilt. Ich mochte ihn nicht, er mich natürlich auch nicht. Ich entdeckte ihn am Pausenstand mit einer Gruppe von Jungs. Ich tippte ihn vorsichtig an, er drehte sich ruckartig um, sah mich an und verzog sein Gesicht: „Hau ab“, sagte er forsch. Mein Körper verkrampfte, was sollte ich jetzt sagen? Frank war einen Kopf größer als ich und auch um einiges stärker. Doch ich musste doch Timo finden. Frank starrte mich immer noch an. „Kennst du einen Timo Schmidt?“, platzte es aus mir heraus. Frank sah mich verwundert an, dann blickte er sich um, fixierte einen Punkt im Raum und zeigte in die Richtung. Ich blickte dorthin und entdeckte eine Gruppe bestehend aus drei Jungs. „Ja, das ist der im grünen Pulli.“ Ja, ich sah ihn, den Jungen, der meine letzte Chance war. Ich lächelte Frank an: „Vielen Dank“, sagte ich, bevor ich direkt auf Timo zuging.Meine Hände schwitzten, ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Aber warum? Innerlich wusste ich doch, dass ich Timo gar nicht richtig kannte. Aber ich wusste auch, wie wichtig er mir war. Ich war viel zu nervös, um etwas zu sagen. Deshalb entschied ich mich dafür, mich stattdessen zu räuspern. Die drei drehten sich zu mir um, alle sahen sie mich an. Timo hatte braune Haare, war schlank und groß, ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Meine Knie begannen zu zittern, mein Mund war ganz trocken. Wieso war ich so aufgeregt? Die Jungs sahen mich erwartungsvoll an. Ich riss mich zusammen, sah Timo an und sagt: „Bist du Timo Berghammer?“ Der Junge sah mich erst misstrauisch an, dann lachte er: „Ja, auf Facebook schon. Und wer bist du?“ Wir redeten miteinander, das war schon mal toll für mich. „Ich bin Ron Maier.“ Ich hatte auch nicht meinen echten Namen angegeben. Warum? Jetzt musste ich ihn fragen, jetzt oder nie. Ohne groß nachzudenken, sagte ich die Worte: „Willst du … mein Freund werden?“ Jetzt wo ich die Worte ausgesprochen hatte, wusste ich, dass es idiotisch klang. Doch es war zu spät. Die drei Jungs lachten los, ein paar Schüler drehten sich zu uns um. Timo sah mich an: „Meinst du das ernst? Wir haben doch nur ab und zu miteinander geschrieben? Sorry, Kleiner, aber ich glaube, so geht das nicht.“ Das war zu viel. Erst lief mir nur eine Träne übers Gesicht, dann mehrere. Ich sah mir Timo noch einmal an, der immer noch ungläubig und grinsend schaute, dann rannte ich weg, nach draußen, weg vom Schulgelände, einfach weg. Noch nie hatte ich mich in meinem Leben so getäuscht, noch nie war ich so naiv gewesen. Jetzt wusste ich, wie wichtig mir ein Freund wäre. Ich weinte und schluchzte, aber wieso? Timo hatte doch recht, wir hatten nur ein paarmal miteinander geschrieben, er war nur eine Person, niemand besonderes. Es hätte jeder sein können. Ich hörte schlagartig auf zu weinen. Die Worte schossen mir durch den Kopf: „Es hätte jeder sein können.“ Auf einmal wurde mir klar, wer mein Freund in dieser Geschichte war, nicht Timo, nein, das Internet. Auch wenn ich es schon von Anfang an gewusst hatte. Ich hatte eine Freundschaft so sehr gewollt, mir war egal, wer mein Freund werden würde, Timo war einfach der Erstbeste. An diesem Tag hatte ich für mich gelernt was Freundschaft war, auch wenn es keine echte war, nicht einmal ansatzweise. Die Freundschaft zwischen mir und Timo hatte nur in meinem Kopf stattgefunden. Eine Freundschaft mit jemandem, dem man vertraut, mit dem man Zeit verbringen möchte. Jemanden, den man nicht verlieren möchte. „Heute ist das Internet ein Freund des Menschen, wir verbringen viel Zeit mit ihm, vertrauen ihm, haben Spaß mit ihm. Aber nicht komplett. Alle Menschen wissen und sagen, wie gefährlich das Internet ist, man sollte ihm keine privaten Dinge anvertrauen, doch trotzdem nutzen wir es jeden Tag. Es ist schon fast zu einem Freund geworden, doch niemals würde ein Mensch behaupten, das Internet sei sein Freund. Aber wir alle verbringen so viel Zeit mit ihm. Es ist sozusagen ein ziemlich bester Freund.“ Ich wandte meinen Blick von dem kleinen Notizblatt in meiner Hand und sah zur Klasse. Alle sahen mich an, alles war still. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Herr Lindner lächelte mich an. „Eine gute Ausrede, um zu sagen, dass du keine Freunde hast“, kam es aus der letzten Reihe. Die Klasse lachte laut los. Mir war das egal. Außer Tom aus der ersten Reihe, er saß still da.Beim Heimweg nach der Schule spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Ich fuhr herum und erblickte Tom. „Ich fand deine Hausaufgabe toll, trifft gut zu auf das Leben heutzutage.“ Ich lächelte – jemand der mich ansprach und mich für etwas lobte. „Hey, hast du Lust, heute Nachmittag was zu unternehmen?“, fragte er mich. Mir wurde ganz warm, ich freute mich sehr. „Ja“, antwortete ich mit leiser Stimme. Tom lächelte: „ Cool, ich ruf dich an“, sagte er, bevor er um eine Ecke bog. „Tschüss!“, rief ich ihm noch hinterher, bevor ich ihn nicht mehr sehen konnte. Sollte ich mir Sorgen machen? Was wäre, wenn ich schon wieder falsche Hoffnungen hegen würde, genau wie bei Timo? Nein, das war die echte Welt. Tom existierte wirklich, ihn gab es nur einmal. Timo Berghammer, der Name, der nur erfunden war, hätte jeder sein können, er hätte mit jedem schreiben können und jeder hätte so wie ich Hoffnung auf eine Freundschaft haben können. Nein, Tom war ein Freund. Das Internet und seine erfundenen Identitäten sind Freunde von jedem.

Celine Schmidtke: Zweites Ich

Romy seufzte. Die Therapiestunden ödeten sie an. Sie war nun schon seit mehr als acht Monaten in stationärer Behandlung. Und doch hatte sie kaum Fortschritte gemacht. Romy verabscheute noch immer den Gedanken daran, dass sie ein zweites Ich besaß. Sie hasste es grundsätzlich, schizophren zu sein. Wer würde das auch nicht? Schließlich war es nicht gerade einfach, sich damit abzufinden, eine andere weitere Person in sich zu tragen, die herausbrach, wann sie wollte. Und das tat Romys zweites Ich, Rebecca, nur zu gerne nach Lust und Laune. Rebecca war eindeutig die dominantere Person von beiden. Sie ließ keine Kritik zu und liebte es, andere zu verspotten. Romy dagegen war das genaue Gegenteil. Schüchtern, verhalten und immer liebenswürdig. Das graue Mäuschen eben. Auf einmal wurde sie unsanft aus ihren trüben Gedanken gerissen. Dr. Berger fragte, wie sie sich im Moment fühle. Romy wollte gerade zu der Antwort ansetzen, die sie immer gab, nämlich ,,In Ordnung", als Rebecca ihr das Wort abschnitt.„Na, wie wird’s mir denn wohl gehen, Doktorchen? Blendend, wie immer eben. Mir geht’s super. Nur die Trantüte Romy da ist nervig, finden Sie nicht auch? Immer eine Laune, die tiefer als eine Schlucht ist. Aber was könnte man auch anderes erwarten? Romy war eben schon immer nicht die Lustigste. Dafür bin ich ja da. Womit ich ein weiteres Argument hätte, dass ich besser da bleibe, wo ich bin. Geben Sie’s ruhig zu, Doktorchen, Sie würden mich doch glatt vermissen, nicht?“ Rebecca grinste Dr. Berger herausfordernd an.Jeremiah Berger versuchte ruhig zu bleiben. Als Psychiater musste er das. Und doch riss es ihn immer wieder, wenn die andere Persönlichkeit seiner Patientin unvermittelt hervorkam. Rebecca war sehr von sich selbst überzeugt. Sie hatte gleich gar nichts mit der so leisen Romy zu tun. Aber auch das war ein Symptom, dass bei Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung häufig auftrat. Die betroffene Person hatte meist Schlimmes durchgemacht und sich sozusagen eine Art Schutzmauer durch ein weiteres Ich aufgebaut. Grundsätzlich war diese Krankheit zu behandeln. Nur, um sie behandeln zu können, brauchte man Hintergründe, wie es zu diesem weiteren Ich gekommen war. Und genau das war das Problem bei Romy. Sie konnte sich nicht daran erinnern, in ihrem bisherigen Leben derartig Grauenhaftes erlebt zu haben, dass Rebecca „zu Hilfe kommen musste“. Deswegen galt es als Allererstes herauszufinden, wie Rebecca entstanden war. Aber das war ein schwieriger Prozess. Denn die Einzige, die die Gründe für Romys Schizophrenie wusste, war Rebecca selbst. Und die redete zwar gerne und viel, mied aber fast immer dieses Thema. Dennoch war es Jeremiahs Aufgabe, sie zum Reden zu bringen, und er war sich dessen bewusst. Nur so konnten sie die Krankheit gemeinsam in den Griff bekommen.

Also erwiderte Jeremiah Berger mit seinem charmantesten Lächeln: „Aber ja doch, nur, wissen Sie, die Situation ist für uns alle nicht ganz einfach, und ich bin mir sicher, dass auch Sie Romy helfen möchten, sehe ich das richtig?“ Vertraulich lächelte er sie an. Doch schon im nächsten Moment verhärteten sich Rebeccas Gesichtszüge und sie sagte mit monotoner Stimme: „Natürlich, Doktorchen. Ich bin ja auch kein böser Mensch“ Mit diesen Worten verschwand sie und ließ Romy aus ihrer Trance erwachen. Romy fühlte sich benommen, wie jedes Mal, wenn sie ihrem eigenen Körper nicht Herr war. Mit einer bösen Vorahnung sah sie Dr. Berger schuldbewusst an. „Entschuldigung, ich war gerade nicht ganz bei der Sache, wo waren wir stehen geblieben?“ Bevor der Doktor etwas erwidern konnte, fügte sie hinzu: „Oder hat Rebecca die Sache mal wieder in die Hand genommen?“ Als sie Dr. Berger nicken sah, wurde ihr übel. Der Psychiater bemerkte das und erklärte die heutige Sitzung für beendet. Niedergeschlagen ging Romy in ihr Zimmer.Jeremiah sah ihr nach, als sie die Tür hinter sich schloss. Ein Jammer, dachte er, dass ausgerechnet so junge Menschen wie sie mit so etwas zu kämpfen hatten.Romy war bestimmt nicht älter als Anfang zwanzig. Und doch musste sie mit solch einer psychischen Krankheit versuchen umzugehen. Dagegen kamen alltägliche Probleme nicht auch nur annäherungsweise an das heran, womit sich diese junge Frau herumschlagen musste. Und das, obwohl sie doch noch ein ganzes Leben vor sich hatte. Wie dieses verlaufen würde, konnte keiner sagen.Jeremiah Berger wünschte Romy von ganzem Herzen Besserung. Er dachte daran, wie er insgeheim Romy und Rebecca ironisch bezeichnete. Nämlich als „ziemlich beste Freunde“. Obwohl sie das eigentlich nun wirklich nicht waren.Romy ging den langen Korridor entlang, bog links ab und betrat ihr Zimmer. Die Wände waren noch immer weiß, genau wie damals, als sie hierher kam. Romy hatte nicht das Bedürfnis verspürt, in diesem Raum Fantasie walten zu lassen. Sie fand, die kahlen Wände drückten ihre eigene Trostlosigkeit besser aus, als sie es hätte beschreiben können. Sie legte sich auf das frischgemachte Bett und starrte gedankenverloren die Zimmerdecke an. Wieder einmal legte sich das Gefühl von schwerer Erschöpfung wie ein Mantel auf sie nieder. Romy gab widerstandslos nach und die Müdigkeit übermannte sie.Der Traum war wieder der gleiche. Romy rannte einen endlosen Weg entlang, der niemals aufzuhören schien. Von links und rechts versuchten geisterhafte Schemen, sie festzuhalten, die immer wieder böse auflachten und ihren Namen schrien. Vor Romy tat sich eine Tür auf, auf die sie geradewegs zulief. Sie versuchte, die Tür zu erreichen, doch sie wurde auch nach unzähligen Versuchen immer wieder durch eine Kraft abgestoßen. Diese Kraft erlaubte es Romy nicht, näher als fünf Meter an die Tür zu treten. Doch nun verlief der Traum anders. Nicht wie sonst wurde sie von der Tür abgehalten. Romy war schon fast an der Tür, als diese von innen aufging und ihr Ebenbild auf sie zutrat. Romy wusste ohne zu fragen, dass das nur Rebecca sein konnte, die sie mit einem überlegenen Lächeln empfing. „Komm, Romy, ich zeige dir, warum ich mich entschlossen habe, bei dir zu wohnen“, lockte Rebecca. Sie ergriff Romys Hand und zog sie durch die Tür.Dr. Berger verabschiedete seinen letzten Patienten für den heutigen Tag und beschloss dann, sich noch einmal Romys Akte vorzunehmen. Er beugte sich über die Notizen, die er sich im Laufe der Monate gemacht hatte. Die Ausbeute an möglichen Hintergründen für Romys zweites Ego war spärlich. Fortschritte waren in dieser Akte ein Fremdwort. Romy hatte Jeremiah, nachdem Rebecca das erste Mal mit ihm gesprochen hatte, gefragt, warum Rebecca Rebecca heiße. Wenigstens darauf konnte er ihr damals eine simple Antwort geben. Bei vielen seiner Patienten, die unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung litten, hatte er festgestellt, dass die Namen der anderen Egos meist mit dem gleichen Buchstaben anfingen, wie auch die der Patienten. Auch das war ein Symptom für diese Krankheit. Die unterbewusste Namensgebung.Ernüchtert stellte Jeremiah Berger fest, dass auch das wiederholte Durchgehen der Unterlagen zu nichts geführt hatte. Seufzend lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Doch plötzlich, als er gerade beschloss, Feierabend für heute zu machen, ging die Tür auf und Romy stürmte herein.Sie war sich sicher. Sie war sich absolut sicher. Und sie hatte das dringende Bedürfnis, ihre Entdeckung mit jemanden zu teilen. Doktor Berger. Er würde bestimmt keinen Dienst mehr haben, aber das war Romy egal. Er war der Einzige, der sie verstehen würde. Daran gab es nichts zu zweifeln. Romy rannte durch den Flur bis zu dem Sprechzimmer von Dr. Berger und öffnete die Tür, ohne vorher anzuklopfen.„…und als mich Rebecca hineingezogen hat, habe ich vor mir, wie in einer Art Luftblase, meinen verstorbenen Onkel und mich als kleines Kind gesehen. Er hat…er hat mich damals vergewaltigt. Und das nicht nur einmal. Er hat zu mir gesagt, dass das nun unser kleines Geheimnis sei und mir gedroht, wenn ich es irgendjemandem erzählen würde, passiere etwas Schreckliches. Das hat mir zu dieser Zeit einen riesigen Schrecken eingejagt, deshalb habe ich ihm versprochen, nichts zu sagen, da ich das in meiner kindlichen Naivität natürlich auch geglaubt habe.“ Romy schauderte, ihr fiel es schwer, das Vergangene noch einmal Revue passieren zu lassen. „Was geschah dann in Ihrem Traum?“, wagte sich Dr. Berger vorsichtig vor. Romy schwieg. Da schaltete sich Rebecca ein. Das konnte Dr. Berger nun schon gut an der Veränderung ihres Gesichts ausmachen. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich ein wenig und ihr Ausdruck wurde selbstbewusster.„Das kann ich Ihnen sagen, Doktorchen. Ich glaube, ich kann den restlichen Teil besser erklären. Nachdem ich Romy ihren Onkel gezeigt habe, wie er sie missbraucht hat, kam eine andere ‚Luftblase‘, wenn Romy es denn unbedingt so nennen möchte, in der man die Beerdigung ihres Onkels mitverfolgen konnte. Er ist ziemlich früh an einem Herzinfarkt gestorben. Wie es der liebe Gott halt so will. War vielleicht auch nicht verkehrt. Sonst hätte er mit Sicherheit seine Spielchen noch weiter mit Romy getrieben und ich hätte mir meinen Sitz in ihr womöglich später noch mit einem anderen Ego teilen müssen. Das wäre eng geworden, ich sag’s Ihnen, Doktorchen! Aber um beim eigentlichen Thema zu bleiben – halt, Doktorchen! Ich kann Ihnen Ihre Frage schon von der Stirn ablesen. Sie wollen wissen, was ich damals für einen Zweck erfüllte und immer noch tue, stimmt’s? Na, das kann ich Ihnen sagen. Ich bin zu Romy um ihr zu helfen, sie zu schützen. Die einen errichten sich eine imaginäre Schutzwand, um nichts an sich heranzulassen, die anderen sind zu schwach, um sich selbst schützen zu können.

Und da liegt es doch nahe, dass sich manche von ihnen eine zweite Persönlichkeit zulegen. So, nun wissen Sie’s. So bin ich entstanden. Ich habe mein Bestes getan, dass Romy die körperlichen Gräueltaten ihres Onkels nicht auch noch seelisch an sich heranlässt. Zumindest nicht das meiste. Also, haben Sie jetzt noch Fragen, oder ist alles wieder in Butter?“Rebecca lehnte sich mit verschränkten Armen im Stuhl zurück und blickte Doktor Berger fragend an.Jeremiah hatte diesen Informationsschwall erst einmal zu verdauen. Doch er wusste, wenn er jetzt nicht dranblieb, hätte er seine Chance, offen mit Rebecca über seine übrigen Fragen zu sprechen, vertan. Also riss er sich zusammen und sagte so locker wie möglich: „Ich finde das sehr vertrauenswürdig von Ihnen, mir all das zu erzählen, und auch Romy gegenüber, die nun wirklich nicht die leichteste Zeit momentan in ihrem Leben hat. Allerdings hätte ich schon noch ein paar offene Fragen, die es zu beantworten gilt, um möglichst viele und große Fortschritte in der nächsten Zeit mit Romy zu erzielen. Deswegen möchte ich gerne wissen, wie es denn für Romy war, damals, als ihr Onkel gestorben ist und somit aus ihrem Leben für immer verbannt war. Wie hat sie sich gefühlt? Aus Ihrer Erzählung kann ich schließen, dass sie nie mit jemanden danach darüber geredet hat, stimmt das? Und waren Sie zu dieser Zeit auch schon so… lassen Sie es mich so ausdrücken…ausgeprägt? Haben Sie Romy schon als kleines Kind… ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten… dominiert?“Jeremiah Berger brannte darauf, die Antworten zu erfahren. Noch nie hatte ihn ein Fall so derartig berührt und mitgenommen. Er wusste, dass es falsch war, so viele Fragen auf einmal zu stellen, doch er konnte sich nicht zügeln. Er musste es wissen.„Ich hätte es mir denken können, Doktorchen, dass Sie darauf brennen, noch mehr zu erfahren. Doch ich glaube, es wäre besser wenn Romy Ihnen den Rest erzählt. Schließlich hat immer noch sie das Ganze erlebt und ich denke, sie kann ihre eigenen Gefühle besser beschreiben als ich. Deswegen noch einen schönen Tag und tschüss!“Romys Haltung sank ein wenig in sich zusammen, die Gesichtszüge verloren ihre Dominanz. Romy musste lange über Dr. Bergers Frage nachdenken. Wie hatte sie sich gefühlt? Sie versuchte sich noch einmal in die damalige Situation, als die Beerdigung war, hineinzuversetzen. Erleichterung, pure Erleichterung. Keinen Funken Trauer noch Mitgefühl. Sie war als kleines Kind einfach nur froh gewesen, dass diese Schreckenszeit endlich ein unerwartete Ende, aber ein Ende genommen hatte. Und das sagte sie Jeremiah Berger auch. Er hatte ihr erzählt, dass Rebecca die Geschichte aus Romys Sicht aufgegriffen und weitererzählt hatte. Jetzt konnte Romy nur hoffen, dass Rebecca sich entscheiden würde, Abschied von ihr zu nehmen und sie selbst wieder eins war. Doktor Berger hatte Romy gegenüber auch leicht peinlich berührt eingestanden, dass er Rebecca und sie insgeheim immer als ziemlich beste Freunde bezeichnet hat. Und auf gewisse Weise stimmte das ja auch. Rebecca war dazu da gewesen, Romy die schlimmste Zeit ihres Lebens ein wenig zu erleichtern. Außerdem hatte Rebecca dafür gesorgt, dass Romy all die Jahre danach die Erinnerungen an damals nicht wieder einholten.Vielleicht war das auch gut so. Vielleicht war wirklich eine indirekte Freundschaft zwischen den beiden entstanden. Wer weiß? Romy hatte jedenfalls so ein Gefühl und es sagte ihr, dass Rebecca eine Freundin geworden war, die sie niemals vergessen würde.

3 MONATE SPÄTER

Romy trat aus der Tür der Klinik nach draußen. Sie atmete die kalte Winterluft tief ein und streckte ihr Gesicht den Schneeflocken entgegen, die sanft auf ihren Wangen zerschmolzen. Sie war frei. Frei von Ängsten, frei von Rebecca. Diese hat sich nach einigen weiteren Therapiesitzungen bei Dr. Berger entschlossen, dass es nun an der Zeit wäre, Lebewohl zu Romy zu sagen. Sie hatte das Richtige getan.

Katrin Müller: Zigaretten, Rauch

Als Shauns Hund stirbt, ist er drei. Shaun weint nicht. Vielleicht ist er ein Held. Vielleicht versteht er es auch nur nicht.
Shauns Vater bringt ihm bei, auf Dosen zu schießen. Shaun trifft jedes Mal.
Shaun betet jeden Abend. Seine Mutter möchte es. Er betet für seine Familie und Freunde und für alle Soldaten, die in Europa kämpfen.
Shaun hört auf zu beten, als sein Freund Joey Halbwaise wird. Er schreibt das Wort auf, weil er es brauchen wird.
Der Krieg hört auf, aber es fühlt sich nicht so an. Shaun hat ständig Hunger.
Dann kommt sein Onkel zurück, einen Tag vor Shauns siebtem Geburtstag. Shaun hört die Geschichten nicht gern. Es sind Geschichten von Hunger und Kälte. Shaun hat genug Hunger und Kälte für sein ganzes Leben gesehen.

Shaun bekommt ein Gewehr, als er sechzehn wird. Seine Mutter lächelt ihm zu und schneidet den Schokoladenkuchen mit viel Buttercreme an, den er sich gewünscht hat.
Shaun und Joey kaufen sich einen Truck, als sie ihre Abschlussprüfungen hinter sich haben. Er ist alt und verkratzt, aber er genügt, um die Mädchen auf dem Jahrmarkt zu beeindrucken.
Shaun schreibt sich an der Universität ein, gemeinsam mit Joey. Sie besuchen die Vorlesungen, lernen Mädchen kennen, rauchen und trinken an Freitagabenden. Manchmal fahren sie nach New York, um ins Kino zu gehen. Sie besuchen den Jahrmarkt und schießen auf Dosen. Shaun trifft jedes Mal.

Als der Aufruf kommt, sich für die Armee zu melden, zögert Joey keine Sekunde. Shaun folgt ihm nach zwei Wochen.
Joey und Shaun haben nicht viel Zeit für den Jahrmarkt während der Ausbildung. Abends in den Baracken, wenn die anderen schlafen oder Zigaretten gegen schmutzige Hefte tauschen, reden sie über New York und ihre Mädchen daheim.
Shaun lernt von Joey Gitarre spielen. Sie rauchen gemeinsam, morgens, vor der ersten Runde um den Platz und warten darauf, transferiert zu werden.

Das Erste, was Shaun vom Krieg sieht, ist der Rauch. Er steht überall, in den Dörfern, im Wald, im Stützpunkt. Ständig brennt es und Shauns Augen hören nicht auf zu tränen.
Joey bleibt stehen, wenn geschwärzte Körper ihren Weg säumen, aber Shaun lernt schnell, sie zu ignorieren. Sie sind für drei Monate stationiert, aber nach drei Monaten spricht niemand von Rückkehr, also bleiben sie.
Shaun kann nicht mehr schlafen, nachdem er das Mädchen verbrennen sieht. Joey, der im Bett unter ihm schläft, weiß es und sagt nichts.
Shaun muss immer an sein Mädchen zuhause denken. Er fragt sich, ob sie sich noch an ihn erinnert.

Joey und Shaun rauchen morgens, vor der ersten Patrouille, weil dann der Geruch von Napalm noch nicht so ätzend und durchdringend ist. Shaun sieht sich eines Tages im Spiegel an und fragt sich, warum er noch kein geschwärzter, zusammengekrümmter Körper am Rand eines viel zu ausgetrockneten, verbrannten Weges ist.

Genau sieben Monate nach seinem ersten Tag im Rauch explodiert eine Granate direkt neben Shaun und er muss nicht hinsehen, um zu wissen, wer das würgende Geräusch von sich gibt und dann beginnt, leise zu wimmern. Es ist kein Sanitäter dabei, also schleppen sie Joey mit. Shauns Schulter schmerzt, aber er trifft immer noch, weil er immer trifft. Sein Kommandant schreit ihn an, weil er Munition verfeuert.

Joey wird tot sein, bevor sie im Lager zurück sind. Er spuckt Blut, und Shaun hält seine Hand.
Als Shauns bester Freund stirbt, ist er dreiundzwanzig. Shaun weint nicht. Vielleicht ist er ein Held. Vielleicht versteht er es auch nur nicht.