27. Januar 2017 - Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus

Margarete, geb. Gelb (4. April 1893 - 2. Februar 1943)

Am 4. April 1893 kommt im Südosten der damals österreichischen Region Mähren - d.h. im Südosten der heutigen Tschechischen Republik - ein Mädchen auf die Welt. Die jüdische Familie, in die sie hineingeboren wird, ist groß: Margarete ist das jüngste Kind und hat dreizehn Geschwister. Die Verhältnisse, in denen sie aufwächst, sind sehr einfach, beinahe ärmlich. Aber: Sie darf - wie ihre Geschwister - acht Jahre lang die städtische Schule besuchen, bevor sie sich mit 15 Jahren eine Arbeitsstelle suchen muss. Sie fängt bei ihrem ältesten Bruder Jakob, der in einer nicht allzu weit entfernten größeren Stadt im Sudetenland eine Metzgerei führt, als Verkäuferin an, und da sie sehr fleißig arbeitet, bleibt sie in den folgenden Jahren in dieser Metzgerei - auch während des Ersten Weltkriegs, der 1914 beginnt.

Kurz vor dem Ende des Krieges, 1918, lernt Margarete einen Mann kennen. Er heißt (wie ihr Bruder) Jakob und hat als Soldat der österreichischen Armee drei Jahre an der Front gekämpft. Er war, obwohl Juden in der österreichischen Armee häufig abwertend behandelt wurden, für seinen Mut ausgezeichnet und zum Unteroffizier befördert worden. 1918 wird er in die mährische Stadt versetzt, um von dort aus die Verpflegung der in der Nähe stationierten Soldaten zu organisieren. In der Metzgerei sehen sich Margarete und Jakob zum ersten Mal und finden sich sofort sehr sympathisch. Und da der Krieg im November 1918 endet und Jakob aus der Armee entlassen wird, heiraten die beiden im März 1919. Sie führen eine einfache Gastwirtschaft für die Arbeiter der nahe gelegenen Hutfabriken: Jakob besorgt die Lebensmittel und Getränke wie Bier und Schnaps. Margarete kümmert sich um die Gäste und den Haushalt und um die immer größer werdende Familie, denn in den Jahren 1920, 1921, 1923, 1925 und 1927 werden den beiden vier Söhne und zum Schluss auch eine Tochter geboren.

Die Familie lebt in sehr einfachen Verhältnissen - zunächst in 2 1/2  Zimmern und später, als ihr Mann 1930 die Wirtschaft aufgibt und einen Lebensmittelhandel in den umliegenden Dörfern beginnt, in 3 1/2 Zimmern.

Margaretes Leben gestaltet sich auch sehr einfach. Sie arbeitet viel. Sie sorgt jeden Tag für eine aufgeräumte und saubere Wohnung, sie wäscht die Wäsche für eine 7-köpfige Familie (ohne Waschmaschine), sie geht einkaufen und kocht jeden Tag das Mittagessen für 7 Personen, sie spült das Geschirr ab (ohne Spülmaschine), räumt auf, wird vermutlich nähen, stopfen, bügeln, backen, kocht das Abendessen und räumt am Abend auf. So vergehen ihre Tage.

Sonntags besucht sie häufig mit ihren Kindern und mit ihrem Mann, wenn dieser sich die Zeit dafür nimmt, ihren Bruder Jakob zum Kaffeetrinken. Und sie liest gerne - hin und wieder nimmt sie sich für sich selbst eine kleine Auszeit und liest Bücher - auch klassische Literatur wie Goethe oder Schiller. Am Sabbat betet sie, denn sie ist auch eine tiefreligiöse Frau.

Margaretes Leben ist sehr einfach. Aber Margaretes Leben ist sehr glücklich. Denn Margarete liebt ihren Mann. Und: Sie liebt vor allem ihre Kinder. Und ihre Kinder spüren ihre Liebe. Ihre Kinder erleben jeden Tag, wie sehr sich ihre Mutter über jedes von ihnen freut. Sie erleben, wie liebevoll sie mit jedem von ihnen umgeht. In einer Zeit - vor 100 Jahren - in der es üblich ist, dass Kinder geschlagen werden, schlägt sie ihre Kinder nicht. In einer Zeit, in der es üblich ist, dass Kinder ausgeschimpft werden, schimpft sie ihre Kinder kaum. Als z.B. einer ihrer kleinen Söhne viel zu spät von der Grundschule nach Hause kommt, wartet sie mit dem Essen auf ihn und es reicht ihr, als er ihr erklärt, dass er sich noch unterhalten habe, bevor sie ihm sein Mittagessen anbietet.

Margarete achtet darauf, dass jedes ihrer Kinder viel Zeit und Muße und vor allem auch die Freiheit hat, das Leben in der Wohnung und außerhalb der Wohnung zu entdecken. Noch gibt es kaum Autos auf der Straße. Die Kinder können überall spielen, Spaß haben und die Welt entdecken. Ihr ist es das Wichtigste, dass jedes ihrer Kinder seine eigene Persönlichkeit entfalten und seinen individuellen Weg entdecken darf. Sie hat Platz dafür, dass jedes Kind etwas anderes begeistert - ihren ältesten Sohn z.B. vor allem der Fußball, wo er sich bewährt und, obwohl er Jude ist, in die Fußballmannschaft der Stadt aufgenommen wird (- selbst wenn sein schulischer Eifer nicht besonders ausgeprägt ist). Ihre Kinder spüren, dass ihre Mutter sich freut, wenn sie ihre eigenen Talente ausprobieren und dabei mit Freude ihr Leben und ihr Dasein genießen. Ihr Mann unterstützt dies, indem er z.B. dem Ältesten, als dieser ungefähr 10 Jahre alt ist, bereits kleinere, aber wichtige Aufgaben im Geschäft zu erledigen gibt, so dass dieser seine Fähigkeiten entfalten und vor allem stolz auf sich sein kann.

Natürlich hat Margarete auch im Blick, dass ihre Kinder rechtschaffene Menschen werden. Sie lebt es ihnen einfach jeden Tag vor, wie das geht. Sie wendet sich jedem von ihnen mit Hingabe zu und geht mit ihnen liebevoll um. Falls wirklich ein Kind einmal etwas Unrechtes getan hat, dann redet sie mit ihm und erklärt ihm, warum sein Tun nicht in Ordnung ist.

Die Kinder können mit allem zu ihr kommen. Wenn ihnen etwas unklar ist oder sie aufgrund der Ablehnung, die sie, weil sie jüdisch sind, gelegentlich erfahren, verwirrt sind, dann erklärt sie ihnen die Zusammenhänge und stärkt sie darin, so sein zu dürfen, wie sie sind. Wenn die Kinder Probleme haben, löst sie diese. Wenn sie unruhig sind, beruhigt sie sie. Die Kinder fühlen sich bei ihrer Mutter geborgen. Unter den Kindern entsteht dabei ein fester Zusammenhalt. Sie entwickeln ein Verantwortungsgefühl füreinander, weil die Mutter - und auch der Vater - dies ihnen vorleben.

Mit ihrer Güte und Zugewandtheit bringt sie ihren Kindern bei, dass das Gute in jedem Menschen zu finden ist - in ihnen selbst und in jedem, dem sie begegnen. Die Kinder entwickeln eine große innere Stärke. Sie wissen sich geborgen, in ihrem Wert geschätzt und gehen so offen mit den Menschen, denen sie begegnen, um.

Über Margarete, geb. Gelb, ist nicht viel bekannt. Sie ist eine einfache Frau, die ein einfaches Leben führt. Aber: Sie lebt ein erfülltes Leben. Ihr ältester Sohn schreibt über sie:

„Meine Mutter war die wichtigste Person in meinem Kinderleben. (...) Sie war eine sehr feine, bescheidene Frau und eine kluge Mutter, die nur gute Worte für ihre Kinder hatte.

Vor allem verstand sie es, jedem ihrer Kinder das Gefühl zu geben, dass sie es ganz besonders gern hatte."

- Am 10. Oktober 1938 marschieren deutsche Truppen in die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei ein. Margarete sieht, wie überall in der Stadt Hakenkreuzfahnen  aufgehängt werden.

- Am 9. November 1938 erlebt Margarete, wie die Synagoge der Stadt geschändet wird. Die Thorarollen und Gebetbücher werden auf die Straße geworfen.

- Am 10. November 1938 wird Margaretes Mann, Jakob, verhaftet und drei Wochen eingesperrt,  weil  er ein  Jude  ist.  Ihr  ältester  Sohn  wird nur  deshalb nicht mitgenommen, weil sie behauptet, er sei erst 17 Jahre alt.

- Im Januar 1939 werden Margarete, Jakob und ihre Kinder gezwungen, unter Zurücklassung ihres Geschäfts das von Hitler-Deutschland besetzte Gebiet zu verlassen. Sie flüchten in die mährische Heimatstadt Margaretes, wo sie in ärmlichsten Verhältnissen leben, da der Vater keine Arbeit bekommt. Die Söhne ernähren die Familie.

- Im März 1939 marschiert die deutsche Wehrmacht auch in Mähren ein. Margarete erlebt in den folgenden Jahren, wie das Leben ihrer Familie immer mehr eingeschränkt wird: Es wird ihnen verboten, ins Kino zu gehen, in den Park zu gehen, ein Radio zu besitzen, außerhalb der Zeit zwischen 15 und 17 Uhr einkaufen zu gehen, mit der Straßenbahn zu fahren, mit dem Zug zu fahren. Sie erhalten weniger Lebensmittel.

- Im Jahr 1941 muss Margarethe allen Familien­mitgliedern den gelben Judenstern auf die Kleidung nähen.

-1942 wird ihr zweitältester Sohn verhaftet, weil er jüdischen Flüchtlingen geholfen hat.

- 24. Januar 1943: Margarete wird aufgefordert, sich mit ihrer Familie am 27. Januar an einem Sammelpunkt in der Stadt für die Deportation zum „Arbeitseinsatz im Osten" einzufinden.

- 30. Januar 1943: Margarete wird mit ihrer Familie ins Ghetto Theresienstadt gebracht.

- 31. Januar 1943: Margarete und ihre Familie werden sofort nach Auschwitz deportiert. Die Zugfahrt dauert fast zwei Tage.

- In der Nacht vom 1. auf den 2. Februar kommt die Familie in Auschwitz an. Bei der sofortigen Selektion an der Bahnhofsrampe werden die für extrem harte körperliche Arbeit Fähige aussortiert und vorerst am Leben gelassen. Alle anderen Menschen werden auf LKWs geladen und weggebracht. Margarete ist 49 Jahre alt.

Sie sieht hier ihre Söhne zum letzten Mal. Noch an demselben Tag wird sie -zusammen mit ihrem Mann Jakob und ihrer 16-jährigen Tochter Käthe - in einerder Gaskammern von Auschwitz-Birkenau vergast. Ihr zweitältester Sohn Erich, der 1942 festgenommen worden war, wird am 15.Februar 1943 in Auschwitz umgebracht. Ihr drittältester Sohn Ernst wird, weil er im Lager hohes Fieber und eine Lungenentzündung bekommt, am 7. März 1943 vergast. Nur Margaretes jüngster Sohn Edgar und ihr ältester Sohn Max überleben die Lager. Weil die beiden Brüder ihre Kindheit und Jugend in einem Klima der Liebe, der Sicherheit und Geborgenheit haben erleben dürfen, fühlen beide auch in Auschwitz tief in sich eine Kraftquelle.                                          

Nach einer kurzen Phase des Schocks während der ersten Stunden in Auschwitz führt der Ältere das fort, was er zu Hause vorgelebt bekommen und gelernt hat — nämlich Verantwortung für die jüngeren Geschwister zu übernehmen und für die Brüder, so gut es geht, zu sorgen und mit ihnen zu überleben. Er lernt sehr schnell, all sein Handeln auf den Erhalt seiner körperlichen Kräfte auszurichten. Er ist sogar dazu bereit, sich den Regeln der SS zu unterwerfen. Und er kann dies, weil er - auch wenn er von der SS als Angehöriger einer „minderwertigen Rasse" behandelt wird - seinen Wert als Mensch von seiner Mutter vermittelt bekommen hat, um ihn in seinem tiefsten Inneren weiß und sich diesen Wert täglich in der Sorge um seine Brüder immer wieder bewusst macht.

Max führt das Überstehen dieser Zeit vor allem auf seine glückliche Kindheit zurück. Er sagt: „Das Familienleben (...), von da aus kommen die Impulse". Das Leben Margaretes war nicht umsonst. Sie vermittelte ihren Kindern den Glauben an das Gute im Menschen. Dieser gibt zwei ihrer Söhne die Kraft, Auschwitz zu überleben.

Und die Liebe Margaretes trägt noch weiter Früchte. In seinem späteren Leben wird Max diese Liebe an seine eigenen Kinder weitergeben. „In seiner Güte und menschlichen Wärme war ich immer geborgen", sagte sein Sohn Ernst an Max' 90. Geburtstag 2010. Und seine Enkelin Judith wünscht ihrem eigenen Sohn und allen weiteren Nachkommen, aus Max" Erfahrung, Leben und Geschichte „eine Wertearche (zu) erbauen und dieses Vermächtnis auch durch sintflutartige Zeiten möglichst vielen Generationen weiter(zu)geben."                    .

Margarete, diese einfache Frau, die ihren Kindern einen Schatz vermittelt hat, der wei­ter verschenkt wird, war Margarete Mannheimer, die Mutter von Max Mannheimer.

(Renate Taube)